Für die Mädchen in Martinsbühel war der Aufenthalt hier ein Martyrium. Heidi F. war eine davon. Sabine Wallinger hat den Ort mit ihr besucht. Ihre Reportage hat viele fassungslose Reaktionen hervorgerufen.

Foto: David Wallinger

Bezüglich des Kinderheims Martinsbühel könnte man von einem Fall von staatlich-kirchlicher Kriminalität sprechen. Warum konnten sich Gewaltverhältnisse halten, die anderswo durch Kontrollsysteme längst verunmöglicht wurden?

Ohne einzelne Fälle von schwerem Missbrauch im Bereich der Heimunterbringung gegeneinander auszuspielen, lassen sich die im STANDARD-ALBUM (siehe "Falltür auf, Kind rein, Falltür zu") berichteten Zustände in der Einrichtung Martinsbühel bei Innsbruck als ein besonders krasses und betroffen machendes Beispiel eines – frei nach Thomas Bernhard – faschistisch-katholischen Gewaltsystems bezeichnen.

Abgesehen von alltäglichen Schlägen und Demütigungen, die von pädagogisch völlig ungeeigneten Schwestern an den ihnen anvertrauten Mädchen begangen wurden, gab es dort schwerste hygienische Mängel, Dunkelhaft, Zwangsarbeit und Zwangsjacken – im Hinblick auf die Unterbringung von Menschen mit Behinderung offenbar bis ins Jahr 2007! Die Atmosphäre war von bigotter Freudlosigkeit geprägt, inklusive Ausstattung aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges wie zerkratztes amerikanisches Militär-Plastikbesteck oder Teller mit Hakenkreuzen.

Dass sich diese Einrichtung des Benediktinerordens wie in einer Zeitkapsel so lange halten konnte, ist ein Skandal, der einerseits einiges über das "heilige Land" Tirol erzählt, andererseits aber auch eine Fülle an Fragen aufwirft, denen sich die zuständigen staatlichen Stellen und die katholische Kirche über bisherige – durchaus verdienstvolle – Bemühungen hinaus dringend stellen sollten.

In der kriminalsoziologischen Forschung gibt es den Begriff des "state-corporate crime". Damit sind Konstellationen gemeint, in denen staatliche Institutionen mit privaten Unternehmen auf eine Weise zusammenwirken, dass schwere Straftaten verübt beziehungsweise menschenrechtswidrige Praktiken angewandt werden, typischerweise durch ein Ineinandergreifen von Profitinteresse, Kontrollversagen und Korruption.

Staatlich-kirchliche Kriminalität

In Anlehnung an dieses Konzept könnte man im Fall Martinsbühel von staatlich-kirchlicher Kriminalität sprechen, die umso schwerer wiegt, als die erniedrigenden und entrechtenden Verhältnisse in keiner Weise zeitgenössischen Standards entsprachen – mag eine lieblose Heimbetreuung auch noch so sehr gesellschaftliche Realität im Nachkriegsösterreich gewesen sein.

Im Jahr 2007 war etwa das Unterbringungsgesetz, das Zwangsaufenthalte in der Psychiatrie regelt und an rechtsstaatliche Bedingungen knüpft, bereits über eineinhalb Jahrzehnte in Kraft. Auch das Heimaufenthaltsgesetz stand bereits zwei Jahre in Geltung, die Kinder- und Jugendanwaltschaft Tirol bestand zu diesem Zeitpunkt seit zwölf Jahren. Warum konnten sich ausgerechnet im Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe Gewaltverhältnisse halten, die in anderen "totalen Institutionen" durch etablierte Kontrollsysteme längst verunmöglicht wurden?

Auch wenn die wenigen noch lebenden Schwestern dement sein mögen, gibt es Verantwortliche für die furchtbaren Zustände, deren letzte Ausläufer vor etwas über einem Jahrzehnt anscheinend noch existierten. Jedes Kind in Martinsbühel muss durch einen aktiven Vorgang der zuständigen Jugendhilfe-Behörden dort "platziert" worden sein, und sehr wahrscheinlich wurden auch Steuergelder zur Bezahlung dieser "Maßnahme" aufgewendet.

Unabhängig von einem allfälligen strafrechtlichen Nachspiel trifft Staat und Kirche eine moralisch-politische Verantwortung, die Opfer endlich großzügig finanziell zu entschädigen. (Walter Fuchs, Martin Fuchs, 11.12.2018)