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Theresa May tourte zu Wochenbeginn durch Europa.

Foto: AP Photo/Virginia Mayo

Unbeirrt und äußerlich beherrscht wie immer hat die britische Premierministerin am Dienstag ihre kurzfristig anberaumte Europa-Reise absolviert. Bei Besuchen in Den Haag, Berlin und Brüssel wollte Theresa May ausloten, ob ihr die Verbündeten beim Brexit entgegenkommen können.

Unterdessen wurde die Regierungschefin im Londoner Unterhaus erneut scharf dafür getadelt, dass sie am Montag die geplante Abstimmung über den eigentlich vereinbarten EU-Austrittsvertrag fast in letzter Minute verschoben hatte. Die Labour-Opposition erwägt nun einen Misstrauensantrag gegen die Regierung.

Doch auch aus der eigenen Tory-Partei der Premierministerin droht Gefahr. Am Dienstagabend verdichteten sich Meldungen darüber, dass die 48 Briefe, die ein Misstrauensvotum gegen Premierministerin Theresa May in Gang bringen würden, zusammengetragen worden seien. Diese müssen Tory-Abgeordnete des Londoner Parlaments beim Abgeordneten Graham Brady unter Verschluss übergeben.

Wenn dieser 48 Briefe erhalten hat, muss er dies der Premierministerin melden. Aufgrund der späten Stunde und auch deswegen, weil May bis am später Dienstag Abend durch Europa tourte – also außer Landes war – ist nicht mit einer offiziellen Bestätigung vor Mittwoch zu rechnen. May kam erst gegen 23:00 Uhr nach London zurück. Graham Brady hat Theresa May zu einem Treffen morgen nach der wöchentlichen Parlamentsdebatte gebeten.

Grand Tour durch Europa

Am Dienstag traf May aber noch einige europäische Staatschefs. Vor ihrem Zusammentreffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel geschah May ein Missgeschick: Kurzzeitig ließ sich die Tür ihrer Limousine nicht öffnen.

Allem fröhlichen Lächeln beim anschließenden Händedruck zum Trotz hätte die Szene symbolhafter für ihre derzeitige Lage kaum sein können: Eingesperrt zwischen den unvereinbaren Brexit-Ultras und EU-Freunden in ihrer eigenen Partei; unter Druck vonseiten der Opposition im Unterhaus und in den Regionen des Landes; gejagt von Tory-Rivalen, die an ihrem Stuhl sägen – für die Premierministerin scheint es politisch kaum noch einen Ausweg zu geben.

Mitleid und Verachtung

In London schwankte die Stimmung gegenüber der 62-Jährigen am Dienstag zwischen Mitleid und Verachtung. Die Londoner Zeitungen gaben am Dienstagmorgen mit ihren Schlagzeilen den Ton der Debatte vor. "Mays letzter Versuch" titelte die Daily Mail, "May fleht in Europa um Hilfe", lautete das Fazit der Times, "May läuft davon", schrieb der Daily Mirror.

Wenig aussichtsreich schienen die Versuche, auf dem Kontinent für eine Neuausrichtung des Vertrages zu werben – jedenfalls nach den Vorab-Statements von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu urteilen (siehe Artikel unten). Für Neuverhandlungen gebe es keinen Spielraum, teilte dieser kategorisch mit. Höchstens "Klärungen" wollen die EU-Partner versuchen, um May zu Hilfe zu kommen.

Im Unterhaus in London wird sie damit wenig Erfolg erzielen. Mehr als 22 Stunden netto hat die Premierministerin in den vergangenen zwei Monaten dem Parlament Rede und Antwort gestanden, haben eifrige Statistiker an Mays Amtssitz in der Downing Street 10 errechnet. Nicht ein einziges Mal hat May in den vergangenen Wochen die Gelegenheit zu einer Konfrontation mit einem der Brexit-Ultras genutzt. Stets appelliert sie nur ganz allgemein an das "Verantwortungsbewusstsein" der Parlamentarier. Lediglich die Angst vor Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn hält die Tories noch notdürftig zusammen.

Der langjährige Hinterbänkler eröffnete am Dienstag eine Sonderdebatte des Unterhauses mit der fröhlichen Bemerkung, in seinen 35 Parlamentsjahren habe er "immer wieder scharfe Meinungsunterschiede mit dem jeweiligen Premierminister" gehabt, nie aber sei er Zeuge eines so "schlimmen Durcheinanders" geworden wie am Montag. "Die Premierministerin läuft vor ihrer Verantwortung davon."

Freilich gibt es in der eigenen Partei und bei anderen Oppositionsgruppen viele, die Corbyn dasselbe nachsagen. Am Montagabend richteten mehr als 60 Abgeordnete einen dringenden Appell an den Vorsitzenden: Die Zeit sei nun gekommen für einen Misstrauensantrag gegen die konservative Minderheitsregierung. Der Forderung schlossen sich die kleineren Parteien an, angeführt von der Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Das "Tohuwabohu in Westminster" könne nicht weitergehen, findet die Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP).

Corbyn gegen zweites Referendum

Dass sich Corbyn und seine Getreuen zieren, hat einen einfachen Grund: Im Fall eines Misstrauensantrags hat die nordirische DUP May die Unterstützung zugesagt – die Abstimmung würde für die Opposition also verloren werden. Der auf dem jüngsten Parteitag beschlossenen Strategie zufolge müsste sich Labour dann geschlossen der Forderung nach einem zweiten Referendum anschließen. Genau dies will der heimliche Brexiteer Corbyn vermeiden.

Und so bleibt die Premierministerin einstweilen im Amt. "Vor dem 21. Jänner", so gab die Regierung am Dienstag bekannt, werde das Parlament auf jeden Fall zur Abstimmung gebeten. (Sebastian Borger, red, 11.12.2018)