"Mooning" gegen die Elite: Die Gelbwesten zeigen ihre Abneigung, die Ziele sind nebulöser.

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Es ist der Aufstand des Frankreich der Provinzen gegen jenes der urbanen Elite. Aktiviert wurde die Bewegung der "gilets jaunes", der "gelben Westen", durch Emmanuel Macrons geplante und inzwischen wieder aufgeschobene Ökosteuer, die für all jene, die ihr Auto brauchen, um zur Arbeit zu kommen, empfindliche Einbußen bedeutet hätte. Doch der Symbolwert der Proteste ist in den letzten zwei Monaten deutlich angestiegen. Aus dem Anliegen, gegen eine Steuer einzutreten, wurde eines der sozialen Gerechtigkeit.

Trotz der Zugeständnisse von "Jupiter", wie der als arrogant empfundene Präsident gerne tituliert wird, ist der Zorn nicht erstickt, im Gegenteil. Die Bewegung ist weiter angewachsen, weil das diffuse Gefühl, vom politischen Establishment nicht mehr repräsentiert zu sein, von demografisch durchaus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen geteilt wird.

Und wo viele sind, gibt es auch einiges zu holen. Nicht nur in Frankreich wird inzwischen rege diskutiert, wessen Programm die heterogene und kopflose Bewegung eigentlich vertritt, marschieren darin doch Menschen mit rechten und linken Positionen nebeneinander. Dass die Proteste überwiegend über Facebook organisiert werden, ist für ihre dezentrale Logik bestimmend – sie sind im Nu entstanden, institutionelle Organisationsformen braucht sie keine mehr.

Kritik an Facebook

Das hat auch zu Kritik geführt: Politische Ziele seien bald aus dem Blick geraten, schreibt Leonid Beshidsky via Bloomberg, Gruppenadministratoren auch nicht demokratisch legitimiert. Mitbedingt durch Algorithmus-Anpassungen des Unternehmens, sei eine Echokammer der Wut in Gang gesetzt worden, die demokratiepolitisch wenig Verbindliches hervorbringt. Facebooks Rolle müsse geprüft werden.

Allerdings sorgt die Unübersichtlichkeit an Stimmen, das lose Netzwerk, umgekehrt auch dafür, dass die Bewegung der Gelbwesten so viele ideologische Anschlüsse erlaubt. Ihre Diffusität hat einen regelrechten Deutungskampf entfacht, diverse politische Fraktionen versuchen, die Proteste für sich zu vereinnahmen. Eine der prägnantesten Positionen vertritt die Gruppe um den Schriftsteller Édouard Louis und den Philosophen Geoffroy de Lagasnerie, beide enge Vertraute des Soziologen Didier Eribon, dessen vieldebattiertes Buch Rückkehr nach Reims sich wie eine Grundlage für die Anliegen liest, die auch für die Gelbwesten im Mittelpunkt stehen.

Eribon rekapituliert darin seinen eigenen Weg aus dem proletarischen Milieu seiner Kindheit durch die Mühlen eines Bildungssystems, das vor allem Eliten reproduziert, und entwirft nebenbei eine Erklärung dafür, warum sich Arbeiter von der Linken abgewandt haben. Sein Schüler Édouard Louis schließt sein ähnliches Herkunftsmilieu mit der gegenwärtigen Revolte kurz. In einem auch international publizierten Kommentar in Les Inrockuptibles wendet er sich gegen die Stigmatisierung der Gelbwesten als wild gewordener Mob. Louis' jüngstes Buch, Wer hat meinen Vater umgebracht (Ende Jänner auf Deutsch), beschreibt das Arbeiterleben seines Vaters als eine laufende Zerstörung von dessen Körper – eines Körpers, dem er nun in den oft älteren Protestierenden wiederbegegnet.

Noch deutlicher wird Geoffroy de Lagasnerie im Interview mit der Schweizer WOZ. Er bezeichnet die Empörung der Gelbwesten als "die Revolte der populären Gesellschaftsklassen", die er aus vollem Herzen unterstützt. Es handle sich um eine "Armenbewegung", die sich aus den "Abwesenden der Politik" zusammensetze, also all jenen, die nicht mehr auf Vertretung von Parteien hoffen dürfen. "Es sind diejenigen, die man als rassistisch und zurückgeblieben bezeichnet hat. Nun drängen sie sich in den Vordergrund."

Lagasnerie geht es um ein Reframing der Proteste, das ganz offen in Kauf nimmt, dass in deren Mitte auch fremdenfeindliche Ressentiments, Aufrufe zum Frexit und rechts besetzte Abschottungstendenzen zu vernehmen sind. "Politik besteht darin, die Bewegung umzuwandeln, ihr eine Bedeutung zu geben. Die Rolle der Linken ist es, die Bewegung zu umarmen, eine Verbindung herzustellen und sie ins progressive Lager zu holen", so Lagasnerie.

Ob dieser Sieg der Linken auf der Straße möglich sein wird? Das Revolutionspathos schwillt in Frankreich bekanntlich schneller an als anderswo, auch auf Sachbeschädigung wird weniger empfindlich reagiert. Historikerinnen wie Sophie Wahnich haben nicht gezögert, die Form des Aufstands mit den "Sansculottes" zu vergleichen, Arbeitern und Kleinbürgern, die in der Frühphase der Revolution von 1789 eine wichtige Rolle spielten. "Mit mehr Frauen", so Wahnich, würde man nun für soziale Ausgewogenheit kämpfen.

Wenig konkrete Anleitungen

Entscheidend dürfte letztlich sein, ob es der Bewegung gelingt, ihre Ziele pointierter zu definieren, als etwa nur den Sturz Macrons oder die Auflösung des Parlaments zu propagieren. Und es bleibt immer noch die Gefahr, dass am Ende nur Rechtspopulisten von der aufgekochten Stimmungslage profitieren. "Die Bewegung der Gelbwesten ist eine soziale Revolte, aber keine soziale Bewegung im eigentlichen Sinn", schreibt der Historiker Pierre Rosanvallon, Experte für Gegendemokratie, in Le Monde. "Diese geht historisch immer mit organisierten Aktionsanleitungen oder einer Konzentration auf Ziele einher."

Einen Versuch, der programmatischen Unschärfe konkrete Vorschläge entgegenzuhalten, haben die Juristin Stéphanie Hennette-Vauchez und der Ökonom Thomas Piketty mit ihrem Manifest für ein demokratischeres Europa unternommen. Piketty sieht die zentrale Fragestellung der Gelbwesten in der Steuergerechtigkeit. Er fordert Macron auf, die von ihm gestrichene Vermögenssteuer wieder einzusetzen. Fiskale Lösungen müssen jedoch europaweit gefunden werden – auch ein offeneres Parlament mit mehr Partizipation. Das wäre ein Weg für ein Europa der sozialen Inklusion und größerer Solidarität. (Dominik Kamalzadeh, 17.12.2018)