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Wenn jährlich im Herbst der Kriminalitätsbericht veröffentlicht wird, wenn parlamentarische Anfragen mit Sonderauswertungen über Straftaten beantwortet werden, geht in den Köpfen vieler Journalisten der Schlagzeilengenerator an. Häufig hört und liest man dann von "weniger Einbrüchen" oder von "mehr Sexualdelikten" – und wenn der Titel einem Boulevardmedium genügen soll, dann "explodiert die Kriminalität" oft ungeachtet der Zahl der Strafanzeigen und der Tatverdächtigen im amtlichen Dokument.

In Wahrheit bilden natürlich auch die dokumentierten Zahlen nicht "die Einbrüche", "die Sexualdelikte" oder "die Kriminalität" ab. Sie geben lediglich Tathandlungen wieder, die den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis gelangen. Kriminalsoziologen sprechen bei der Summe der erfassten Strafanzeigen von einem "Hellfeld".

Und wo es ein Hellfeld gibt, muss es auch ein "Dunkelfeld" geben.

In diesen Ausschnitt der Kriminalität fallen alle Straftaten, die die Ermittlungsorgane nicht registrieren. Das können Fälle sein, bei denen sich Opfer aus verschiedenen Gründen nicht an die Polizei wenden: wegen eines Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnisses zum Täter; aus Angst vor Repressalien durch den Täter; aus Scham; weil das Opfer abhängig oder unabhängig vom anzuzeigenden Delikt eine eigene Strafverfolgung befürchtet; oder schlicht weil das grundsätzliche Vertrauen in Exekutive und Justiz fehlt und "es sowieso nichts bringt".

Dunkelfeldstudien vs. Kriminalstatistik

Wie groß das Dunkelfeld in einem gegebenen Zeitraum und einer bestimmten Region ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Während es in Österreich derartige Erhebungen nicht gibt, versuchen Forscher in anderen Ländern, der Divergenz über den Vergleich mit repräsentativen Opferbefragungen beizukommen.

Die größte sogenannte Dunkelfeldstudie läuft in den USA mit dem National Crime Victimization Survey (NCVS) durchgehend seit 1973. Dazu befragt das US Census Bureau rund 225.000 Personen in halbjährlichen Intervallen, ob sie im Erhebungszeitraum Opfer strafbarer Handlungen geworden sind.

Stellt man die in der offiziellen US-Kriminalstatistik Uniform Crime Reporting (UCR) registrierten Gewaltdelikte den Opferbefragungen gegenüber, so wird eine klare Annäherung deutlich. Zwar war die Zahl der Gewaltopfer laut Selbstauskunft 2016 mehr als viermal so hoch wie jene der Strafanzeigen. Vor 25 Jahren war der Wert aber noch neunmal so hoch.

Ganz ähnliche Kurven beschreibt die Gegenüberstellung angezeigter und erlebter Kriminalität im Vereinigten Königreich. Laut Ergebnissen des Crime Survey for England and Wales (CSEW) und Anzeigezahlen des National Crime Recording Standard (NCRS) hat sich das Dunkelfeld der Gesamtkriminalität in den vergangenen Jahrzehnten merklich geschlossen.

Das Phänomen kleiner werdender Dunkelfelder leiteten in den vergangenen Jahren auch Kriminologen aus den Niederlanden aus Ergebnissen von Opferbefragungen und Kriminalstatistiken ab.

In Deutschland ging das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) den umgekehrten Weg und befragte in einer langjährigen anonymisierten Jugendstudie nicht Opfer, sondern Täter. Sowohl bei Ladendiebstahl als auch bei Körperverletzung und Sachbeschädigung sank der Prävalenzwert von Neuntklässlern zwischen 2000 und 2015 auf einen Bruchteil.

Um auszuschließen, dass sich der Rückgang schlicht auf eine sinkende Auskunftsbereitschaft der potenziellen Täter zurückführen lässt, zogen die Kriminologen unabhängige Daten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung heran. Tatsächlich sank auch die Zahl der Verletzungen durch Raufereien, die Schulen an den Versicherungsträger melden müssen; konkret ging der Wert zwischen 1993 und 2010 von 15,5 auf 9,2 Fälle je 1.000 Schüler und Jahr zurück.

Gleichzeitig scheint auch die Intensität der Gewalthandlungen abgenommen zu haben. Die Rate an Knochenbrüchen infolge von Raufunfällen hat sich im selben Zeitraum von 1,5 auf 0,7 je 1.000 Schüler halbiert.

Dass die Dunkelziffer vor allem bei Delikten gegen Leib und Leben sinkt und sich im Umkehrschluss ein immer größerer Ausschnitt der "Kriminalitätswirklichkeit" im Hellfeld abspielt, sei "durch kriminologische Dunkelfeldstudien inzwischen vielfach belegt worden", schreibt der Konstanzer Kriminologe Gerhard Spiess – auch wenn das dem medial vermittelten Eindruck widerspreche.

Laut Spiess sei dieses Phänomen "einer gestiegenen Sensibilisierung der Öffentlichkeit gegenüber Gewalt und einer entsprechenden Änderung des Anzeigeverhaltens zuzuschreiben". Selbst Fälle geringerer Schwere werden immer häufiger zur Anzeige gebracht.

"Vergewaltigungsparadies" Schweden?

Auch die Entwicklung der Anzeigenzahl bei Sexualdelikten deute laut dem Wiener Kriminalsoziologen Walter Fuchs darauf hin, dass sie "nicht mehr einfach so hingenommen werden" wie früher. In Schweden ist die Sensibilisierung in diesem Bereich besonders fortgeschritten. In kaum einem anderen Land werden Frauen so offensiv ermutigt, Vergewaltigungen anzuzeigen. Das hat sich zuletzt in einem Anstieg der entsprechenden Fallzahlen in der Anzeigestatistik niedergeschlagen.

Nimmt man nur diese offiziellen Anzeigenzahl als Maßstab, dann müsste Schweden das europäische Land mit den meisten Sexualdelikten sein. Manche Politiker und Medien, die den Faktor der gestiegenen Sensibilisierung ignorieren, bezeichneten schwedische Städte mitunter als "Vergewaltigungsparadiese".

"Doch dazu ist das Phänomen zu komplex und relational und zu sehr Akt der Bewertung. Kriminalität ist immer Verhalten einerseits und Bewertung andererseits", sagt Fuchs zum STANDARD. Und: "Man muss sich davon verabschieden, die 'wirkliche Kriminalität' nur mit einer einzelnen Kennzahl ausdrücken zu können." (Michael Matzenberger, 5.1.2019)