Viele Österreicher mit türkischen Wurzeln sind derzeit im Ungewissen, ob sie ihren Pass verlieren. Bald könnten sie Klarheit haben.

grafik: fatih aydogdu

In einer aufsehenerregenden Entscheidung gab der Verfassungsgerichtshof (VfGH) am Montag einem Wiener recht, der sich wegen des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft beschwert hatte. Der Österreicher mit türkischen Wurzeln hatte diesen Verlust in allen Instanzen bekämpft und verloren. Erst der VfGH stellte klar, dass ihm die Staatsbürgerschaft zu Unrecht aberkannt wurde.

Frage: Warum ist der Spruch des Verfassungsgerichtshofs so bedeutsam?

Antwort: Weil er für die Behörden eine Richtschnur festlegt, wie künftig mit den zahlreichen offenen Prüfverfahren umgegangen werden muss. Derzeit prüfen die Landesämter ja, ob die von der FPÖ verbreiteten Namenslisten von Austrotürken tatsächlich einen begründeten Verdacht auf illegale Doppelstaatsbürgerschaften begründen. In vielen Fällen haben die Behörden und Gerichte bereits rechtskräftig entschieden, dass Betroffene die österreichische Staatsbürgerschaft verlieren, weil ihr Name auf der Liste steht. Die Behörden gingen nämlich davon aus, dass es sich um einen Auszug des türkischen Wählerregisters handelt – und wer in der Türkei wählen darf, so die Annahme, der könne nicht auch Österreicher sein. Doppelstaatsbürgerschaften sind in Österreich nämlich nur ganz bestimmten Gruppen vorbehalten, beispielsweise Kindern von binationalen Paaren. Die Verfassungsrichter stellen nun klar, dass die umstrittene Namensliste kein taugliches Beweismittel ist. Niemand dürfe allein deshalb ausgebürgert werden, weil sein Name auf der Liste steht und er kein Beweismittel vorlegen kann, aus dem hervorgeht, dass er kein türkischer Staatsbürger ist. Es sei Aufgabe der Behörden, das herauszufinden, so der VfGH. Die Betroffenen müssen den Behörden dabei nur behilflich sein.

Frage: Was heißt der Spruch für die noch anhängigen Verfahren?

Antwort: Die Antwort auf diese Frage ist eine typisch österreichische: Je nach Bundesland sind die Folgen unterschiedlich. In Wien werden die noch offenen Verfahren jetzt eingestellt, heißt es aus dem Büro des zuständigen Stadtrats Jürgen Czernohorszky von der SPÖ – "weil das Beweismittel weggefallen ist". Insgesamt waren es 18.000 Fälle, in denen der Verdacht unerlaubter Doppelstaatsbürgerschaft in Wien geprüft wurde. Nur ein kleiner Teil davon ist negativ entschieden worden: In 397 Fällen wurde der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft festgestellt. Der Großteil davon befindet sich nach Einsprüchen noch im Instanzenzug. 34 Verfahren wurden bisher rechtskräftig negativ beendet. "Die Behörde wird diese Fälle erneut prüfen", sagt ein Sprecher von Stadtrat Czernohorszky. Beruhen die Entscheidungen auf der von der FPÖ übermittelten Liste, werden auch diese Verfahren eingestellt. Alle betroffenen Personen werden von der Stadt Wien in den nächsten Tagen und Wochen kontaktiert, "damit sie Rechtssicherheit haben". Auch in der Steiermark sollen bereits rechtskräftig entschiedene Fälle noch einmal neu geprüft werden. Man wolle auf diese Weise Ungleichbehandlungen vermeiden, sagt die zuständige Behördenleiterin Waltraud Bauer-Dorner. In Oberösterreich hingegen, wo FPÖ-Hardliner Elmar Podgorschek als Landesrat die Staatsbürgerschaftsagenden in der Landesregierung verantwortet, sieht man die Liste weiterhin als "Anhaltspunkt, dass es Verdachtsmomente gibt", sagt Podgorschek.

Frage: Erst vor zwei Monaten hat der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde eines ausgebürgerten Austrotürken abgewiesen. Schon damals war aber klar, dass sich demnächst der VfGH mit der Causa beschäftigen würde. Warum wurde der Spruch des VfGH nicht abgewartet?

Antwort: Tatsächlich haben viele nunmehrigen Ex-Österreicher einfach Pech, weil ihre Verfahren bereits früh entschieden wurden. "Wären wir später dran gewesen, hätten wir das gewonnen", sagt ein Vorarlberger Anwalt, dessen Mandantin ausgebürgert wurde, zum STANDARD. Dass der VwGH den Spruch der Verfassungsrichter nicht abgewartet hat, liegt daran, dass er nicht an den VfGH gebunden ist. Beide Gerichtshöfe entscheiden getrennt voneinander und haben unterschiedliche Fragen zu beantworten: Während der VwGH prüft, ob die unteren Instanzen Fehler begangen haben, widmet sich der VfGH der Frage, ob der oder die Betroffene in einem verfassungsmäßig garantierten Recht verletzt wurde. Vereinfacht gesagt: Da es das erste Mal war, dass sich der VfGH mit der umstrittenen Namensliste beschäftigt hat, konnte der VwGH nicht wissen, dass die Verwendung der Liste als Beweismittel grundrechtswidrig sein könnte.

Frage: Was wurde aus der geplanten Einführung der Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler?

Antwort: Diese Initiative, die die FPÖ sogar ins Regierungsprogramm schreiben ließ (wenngleich in unverbindlicher Formulierung), dürfte im Sand verlaufen. Allein "Deutschen" und "Ladinern", nicht aber "Italienern" den Doppelpass zu geben, lässt sich juristisch nicht argumentieren, denn die zugrundeliegende Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung hat nichts mit der tatsächlichen ethnischen Zugehörigkeit einer Person in Südtirol zu tun. Bei der Südtiroler Landtagswahl im Herbst erlitten die Gruppen, die diese Idee unterstützten, ein Debakel. Seitdem schweigt man auch in Wien das Thema tot. (FRAGE & ANTWORT: David Krutzler, Maria Sterkl, Gianluca Wallisch, 19.12.2018)