Die traditionelle Medizin tut sich mit dem komplexen System Mensch nicht leicht: Wie Körper und Psyche interagieren ist höchst individuell, allgemein gültige Prinzipien zu formulieren eine Herausforderung.

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Christian Schubert leitet das Labor für Psychoneuroimmunologie an der Uniklinik in Innsbruck.

STANDARD: Eine Psychotherapie, die Körper und Geist gleichermaßen betrachtet, ist die Vegetotherapie. Entwickelt in den 1930er-Jahren wird sie beim Training im Spitzensport sehr erfolgreich eingesetzt. Es ist ein ganz anderer Zugang, ein Paradigmenwechsel, sagen diejenigen, die es kennen. Sehen Sie das ähnlich?

Schubert: Von dem ausgehend, was ich bisher zu diesem Thema gelesen habe, meint diese Methode, einem neuen Paradigma zu entsprechen. Darunter versteht man den Wechsel von einer wissenschaftlichen Grundauffassung zu einer anderen. Das ist schon ein großes Wort. Dieses neue Paradigma, von dem auch im vegetativen Training die Rede ist, nimmt den Körper und die Psyche als ein zusammenhängendes, komplexes System wahr. Das alte schulmedizinische Paradigma ist nicht in dieser Form ganzheitlich ausgerichtet.

STANDARD: Aber auch in der Schulmedizin ist doch von einer Komplexität die Rede.

Schubert: Ja, aber was fehlt, ist die dynamisch-funktionelle Wirkverbindung zwischen den einzelnen Elementen des Systems Mensch. Man könnte sagen, der Geist verändert den Körper, was wiederum den Geist verändert, also eine von oben nach unten (top down) und von unten nach oben (bottom up) Kreiskausalität. So würde ein Schulmediziner nicht sprechen. Dort konzentriert man sich auf einseitige Wirkrichtungen. Also dass die Psyche etwas mit dem Körper macht und vielleicht auch der Körper etwas mit der Psyche. Nicht aber, dass Körper und Psyche in komplexer wechselseitiger Beziehung stehen.

STANDARD: Wie kann man sich das anhand eines konkreten Beispieles vorstellen?

Schubert: Nehmen wir eine Entzündung. Der Körper reagiert auf eine Stresssituation mit einer Entzündung. Das ist wie ein erster Abwehrwall, der produziert wird, um möglichen Infektionen und Verletzungen schnell zu begegnen. Beim vegetativen Training wird nun versucht, den Menschen in einen bestimmten Bewusstseinszustand zu bringen, der mit einer Veränderung im vegetativen Nervensystem einhergeht. Und diese Veränderung wirkt nun wieder zurück, wodurch man in eine Top-down-Bottom-up-Schleife kommt, wie zuvor beschrieben. Beim konkreten Beispiel der Entzündung kann nun der durch vegetatives Training aktivierte Parasympathikus seine entzündungshemmende Wirkung entfalten. Das erklärt, warum etwa die Sportler davon berichten, dass mit dieser Methode ihre Heilungsvorgänge bei Überanstrengungen und Verletzungen beschleunigt werden.

STANDARD: Kann man daraus eine allgemein gültige Wirksamkeit ableiten?

Schubert: Nein, man kann das nicht hinsichtlich der Anwendung verallgemeinern und sagen, das wirkt immer gleich. Der Therapeut muss sich mit jedem Klienten individuell auseinandersetzen. Dabei gilt es auch den biografischen Hintergrund und die Persönlichkeit mit einzubeziehen. Der Unterschied ist, man geht nicht davon aus, dass der Sportler eine Maschine ist, die den immer gleichen Input benötigt, um zu regenerieren. Was logisch ist, weil man es eben mit einem komplexen System zu tun hat, das individualisiert betrachtet werden muss.

STANDARD: Wäre ein solcher medizinischer Zugang aus Patientensicht nicht immer der bessere?

Schubert: Richtig, davon bin ich überzeugt. In einer neuen Medizin muss der Patient in seiner spezifischen biopsychosozialen Biografie wahrgenommen werden, es müssen also biologische, psychologische und soziale Entwicklungsaspekte seines Menschseins in der Diagnostik und Behandlung verbunden werden. Das würde dem Menschen in all seinen Facetten gerecht werden. Ungefähr so dürfte auch das vegetative Training funktionieren, dessen Wirksamkeit aus der komplexen Interaktion mit dem Behandler resultiert. (Steffen Arora, 20.12.2018)