Eine zentrale Institution zur Beschränkung der Macht von Parlament und Regierung ist der Verfassungsgerichtshof (VfGH).

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Jede liberale Demokratie beruht auf zwei einander widersprechenden Grundsätzen: Zum einen muss die Ausübung staatlicher Autorität durch politische Mehrheiten legitimiert sein. Das Recht geht vom Volk aus, heißt es im Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetzes. Zum anderen muss diese staatliche Autorität zum Schutz der Rechte von Minderheiten und Individuen eingeschränkt werden.

Eine zentrale Institution zur Beschränkung der Macht von Parlament und Regierung ist dabei der Verfassungsgerichtshof (VfGH). Unter seinen zahlreichen Kompetenzen ist die in der Praxis weitreichendste wohl die Normenkontrolle, also die Prüfung, ob Gesetze, Staatsverträge und Verordnungen mit höherrangigem Recht im Einklang stehen. Am bedeutendsten dabei ist naturgemäß die Frage, ob geltende Gesetze mit dem Verfassungsrecht vereinbar sind.

In jüngster Zeit hat der VfGH mehrmals mit der Aufhebung von Bundes- und Landesrecht für Schlagzeilen gesorgt. So wurden mehrere Bestimmungen zur Regelung der Mindestsicherung in Niederösterreich und im Burgenland aufgehoben (das oberösterreichische Modell hielt der VfGH-Prüfung größtenteils stand). Im Jahr 2017 wurde sogar die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Auch in der wissenschaftlichen Debatte wurde dem VfGH besonders ab den 1980ern ein verstärkter Aktivismus bei der Auslegung von Grundrechten attestiert (eine Entwicklung, die durch den im österreichischen Verfassungsrecht fehlenden Grundrechtekatalog begünstigt wurde).

Daraus könnte man folgern, dass der VfGH in den letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maß Rechtsnormen als verfassungswidrig aufgehoben hätte. Dem ist aber nicht so. Wie die Grafik unten zeigt, ist der Anteil an geprüften Gesetzen, die (zumindest in Teilen) aufgehoben wurden, seit den 1990ern stark zurückgegangen und hat in der jüngsten Vergangenheit einen Tiefststand erreicht.

Wurden zwischen 1991 und 2000 pro Jahr im Schnitt 44 Prozent der geprüften Gesetze beanstandet, so sank dieser Wert auf ein gutes Drittel (34 Prozent) für die Periode 2001 bis 2010 und beträgt für den Zeitraum seit 2011 nurmehr ein gutes Fünftel (21 Prozent). In den Jahren 2016 und 2017 wurde nur eines von zehn geprüften Gesetzen für verfassungswidrig erklärt. Dabei blieb die Zahl der geprüften Gesetze über die Zeit einigermaßen konstant.

Was genau die Gründe für diesen Wandel in der Rechtsprechung des VfGH sind, ist von außen schwer zu diagnostizieren. Zudem ist in der Zeitreihe genug Varianz vorhanden, um den heutigen Tiefstand in der Aufhebungsquote in zehn Jahren als statistischen Ausreißer erscheinen zu lassen.

Nachdem zuletzt auch mehrere Gesetzesvorhaben der Regierungsfraktionen gewichtige verfassungsrechtliche Bedenken aufgeworfen haben (etwa hier, hier und hier), ist es außerdem nicht unwahrscheinlich, dass der VfGH in Zukunft wieder einen höheren Anteil an geprüften Gesetzen kippen wird müssen. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 21.12.2018)

P.S.: Sie wollen jeden Donnerstag einen Newsletter mit Einblicken aus der Innenpolitikredaktion erhalten? Melden Sie sich jetzt kostenlos an: