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Fake-News-zertifiziert: Wer Realitäten ausblendet, ist gefährdet, nur das zu glauben, was genehm ist.

Foto: Getty Images

Ohne Zweifel ist Fantasie auch im nächsten Jahr eine eminent wichtige (und knappe) Ressource. Gute Ideen und das Erzählen von überzeugenden Geschichten sind im Kampf für eine bessere Welt unverzichtbar. Wenn die Fantasie sich freilich von den Komplexitäten des Hier und Heute zu weit entfernt, wird es gefährlich.

Bekannte Beispiele für geradezu destruktive Fantasieprodukte sind die dreisten Lügen der Pro-Brexit-Bewegung im Vereinigten Königreich und die buchstäblich Tausenden von Unwahrheiten, mit denen der US-amerikanische Präsident Donald Trump die Welt in Atem hält.

Komplexitätsreduktion

Freilich wird immer deutlicher, dass ein lockerer Umgang mit Fakten und radikale Komplexitätsreduktionen nicht nur von Rechtspopulisten betrieben werden. Nein, diese Klaviatur wird auch von Leuten beherrscht, die sich ausdrücklich als die Guten sehen.

So wissen wir seit kurzem, dass auch beim Nachrichtenmagazin "Spiegel" Fake und Fantasie eine Rolle spielten, wie man sie beim "Sturmgeschütz der Demokratie" für undenkbar gehalten hätte. Der preisgekrönte "Spiegel"-Journalist Claas Relotius hat in seinen Reportagen, so ist nun herausgekommen, Fakten dreist manipuliert und teilweise ganze Geschichten frei erfunden.

Das Böse, immer und überall

Der "Spiegel" ist peinlich berührt und arbeitet auf, das Publikum ist entsetzt und fragt sich, wie so etwas passieren konnte – und erinnert sich vielleicht an die Erste Allgemeine Verunsicherung, die uns schon Mitte der 1980er-Jahre warnte: "Das Böse ist immer und überall."

Ja! Also auch heute und hier und nicht nur früher und nicht nur beim Brexit und Herrn Trump, sondern bei prestigeträchtigem Journalismus – und natürlich auch dort, wo es um große gesellschaftliche Ziele wie Freiheit, Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit geht.

"Fake" ist mithin kein Begriff, den man nur im Zusammenhang mit politischen Schlammschlachten und Trump'schem CNN-Bashing im Kopf haben sollte, sondern auch bei Themen wie Nachhaltigkeit und Verantwortung. Auch dort verbreitet sich immer mehr ein schleißiger Umgang mit Fakten, Komplexitäten und geschichtlichen Erfahrungen.

Reformansätze, die für hochkomplexe gesellschaftliche Problemlagen einfache Lösungen versprechen, stoßen offenbar auf ein Publikum, das nach Orientierung und simplen Welterklärungen lechzt.

Christian Felbers Version einer "Gemeinwohlökonomie" hat es in die Herzen und Köpfe einer ergebenen Fangemeinde geschafft – die ihm gern glaubt, dass der Kapitalismus durch richtige Werte und mehr direkte Demokratie abgeschafft werden kann. Die dreiste Behauptung, dass Wirtschaft und Gesellschaft sich umfänglich planen lassen, gehört zu diesem Modell ebenso wie die völlige Ausblendung schlimmer historischer Erfahrungen.

Schreibtisch und Geschichte

Die Differenz zwischen Schreibtisch und Geschichte wird hier schlicht nicht reflektiert. Stalin hin, Pol Pot her – die gemeinwohlbasierte Räterepublik, so wird uns versprochen, führt nicht zu Gesinnungsterror, sondern mit Gewissheit direkt ins Himmelreich der allumfassenden Gemeinwohlorientierung und Glückseligkeit.

Die "Donut-Ökonomie" von Kate Raworth – laut Verlag "endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört" – ist ähnlich simpel gestrickt. Auch im Donut lassen sich natürlich bedenkenswerte Ideen entdecken. Der (berechtigte) Vorwurf, der ökonomische Mainstream beachte zu wenig die Komplexitäten der realen Welt, fällt freilich mit voller Wucht auf dieses Konzept zurück.

Für ihre metaphorische Gleichsetzung einer vernetzten Weltwirtschaft mit einem gelochten Backprodukt lässt sich Frau Raworth allen Ernstes – das ist leider kein Witz – mit John Maynard Keynes vergleichen.

Einmal mehr weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Aber weswegen die Tränen auch immer fließen: Klar ist, dass man auch den "Guten" gegenüber kritisch sein muss, wenn die Welt besser werden soll. Denn das Blöde an den zitierten und unzähligen weiteren Fällen ist, dass sie Teil der öffentlichen Spielchen sind, die seit einiger Zeit mit der Wahrheit gespielt werden. Das mag oft gut gemeint sein, gut ist das sicher nicht.

Man sollte die riesengroße Sehnsucht nach Orientierung, Sicherheit und Glücksversprechen nicht unterschätzen – und sich bewusst sein, dass diese Gefühlslage nicht nur von menschenfeindlichen Populisten genutzt wird, sondern auch von naturverbundenen Nachhaltigkeitsaktivistinnen und -aktivisten. Wenn Sie also im neuen Jahr toll designte Nachhaltigkeitsberichte sehen, wenn Ihnen supersimple Lösungen für hochkomplexe Probleme versprochen werden, wenn plötzlich ein neuer "Nachhaltigkeitsrat" auftaucht, wenn Sie Politiker über das unbegrenzte Potenzial technischer Lösungen für ökologische Probleme reden hören – dann bleiben Sie kritisch!

Entspannte Kritik

So ein simpler Appell lädt auf den ersten Blick natürlich mindestens so sehr zum Fremdschämen ein wie die Aufforderung, doch mal locker zu bleiben. Aber in diesen Zeiten ist weder das eine noch das andere banal: Kritisch und entspannt zu sein verbessert die Welt garantiert mehr, als naiv und spaßbefreit durchs Leben zu gehen. Sich unbequeme Wahrheiten zuzumuten, ohne darüber den Humor zu verlieren: Wäre das nicht ein toller Vorsatz für 2019? (Fred Luks, 27.12.2018)