Es ist rührend, wie sehr sich Menschen, die der ÖVP in keiner Weise nahestehen, um deren christlich-soziale Ausrichtung Sorgen machen. Gegen Armutsmigration auftreten? Das könne doch nicht christlich sein! Arbeitslose unter Druck setzen, auf dass sie doch eine Beschäftigung annehmen? Aus Sicht jener, die weder besonders christlich noch gar ÖVP-affin sind, keinesfalls mit der ÖVP-Ideologie vereinbar! Und überhaupt diese ganze Wirtschaftsfreundlichkeit? Purer Neoliberalismus und mit christlichen Ideen unvereinbar – sagen jene, die die ÖVP ohnehin nicht wählen würden.

Aber sie finden zumindest zeitweise Gehör in der Volkspartei. Denn auch dort sind viele Mitglieder und gar nicht so wenige Funktionäre in ideologischen Fragen nicht ganz sattelfest.

Was auch daran liegt, dass die ÖVP seit ihrer Gründung eine Catch-all-Partei sein wollte, die verschiedene gesellschaftliche Gruppen und verschiedene politische Ausrichtungen in einer Partei zusammenfassen wollte. In den ersten Jahren war das gar nicht so einfach: Da waren einerseits die "Besitzenden" – repräsentiert durch Wirtschafts- und Bauernbund – und andererseits die zahlenmäßig bedeutende Gruppe der Arbeitnehmer aus dem ÖAAB.

Recht weit links

Dieser war ähnlich wie die deutschen Christdemokraten in ihren ersten Jahren zunächst recht weit links positioniert. In seinem ersten, 1946 formulierten "Wiener Programm" wurde im Sinn der christlichen Soziallehre gefordert: "Die immer vollkommenere Entwicklung des Rechts auf den Arbeitsertrag verlangt einen hohen Grad von Gemeinsinn, denn es handelt sich um das Miteigentum jedes Einzelnen, der im Betrieb steht."

Einen derartigen Anspruch der Mitarbeiter auf Miteigentum am Betriebsvermögen findet man in späteren Programmen zwar nicht mehr – aber wenn man die Grundsätze der ÖVP zusammenfassen will, kommt man schnell auf: Eigentumsbildung für alle, Bevorzugung von Familien und Aufrechterhaltung von Privilegien (die natürlich nicht als solche bezeichnet werden, sondern als "wohlerworbene Rechte"). Man kann das, wie es Bundeskanzler Sebastian Kurz kürzlich getan hat, auch als die drei Säulen der Volkspartei bezeichnen: die liberale, die christlich-soziale und die konservative (der sich Kurz am wenigsten verbunden fühlt).

Bessere soziale Absicherung

In Sachen Familienförderung ist der aktuellen ÖVP-Führung tatsächlich wenig vorzuwerfen, der neue Familienbonus im Steuerrecht sollte dazu führen, dass Familienerhalter höhere Nettoeinkommen erzielen. Das hat gerade aus katholischen Kreisen für Lob gesorgt. Und auch die auf "Aktivierung zur Arbeitsaufnahme" getrimmte Mindestsicherungsreform, die Kurz gern als "christlich-sozial" etikettiert, kann man zur Not so durchgehen lassen – wobei christliche Nächstenliebe wohl eine bessere soziale Absicherung jener Ärmsten, die nicht leistungsfähig sind, verlangen würde.

Das liberale Element – von den Gegnern der ÖVP gern als "neoliberal" punziert – hat in der ÖVP die eine oder andere Bewährungsprobe bestanden. Immerhin wurden erzkonservative Kreise daran gehindert, sich gegen die Homo-Ehe querzulegen. Wirtschaftspolitisch könnte man im liberalen ebenso wie im christlich-sozialen Sinn noch nachlegen – sowohl was Freiheit durch Eigentumsbildung als auch was Stärkung von Arbeitnehmerrechten betrifft. Aber das muss sich die ÖVP mit sich selbst ausmachen. (Conrad Seidl, 31.12.2018)