Pro

Machen Sie nur ja nicht den Fehler, zu glauben, Sie wären ein ordentlicher Mensch. Sie sind es nur bedingt. Diese Erkenntnis dräut Ihnen spätestens, wenn Sie sich der Netflix-Serie "Aufräumen mit Marie Kondo" hingeben. Für die erfolgreiche Konsumation gelten zwei Grundvoraussetzungen: Entrümpelungsguru Kondo muss Ihnen sympathisch sein, sonst wird das nix. Außerdem sollten Sie leichte Esoterikanwandlungen entweder gekonnt ignorieren oder sogar für gut befinden können. Dann begeben Sie sich beim Schauen der Serie in eine wohlige Welt, in der alles besser wird.

Marie Kondo ist Japanerin und die größte Aufräumberühmtheit des Planeten. Ihre Bücher haben sich weltweit mehr als sieben Millionen Mal verkauft, wurden in 27 Sprachen übersetzt. In acht Episoden ihrer neuen Netflix-Serie lehrt die Sortierkönigin nun amerikanische Familien, wie man seinen Besitzstand entwirrt.
Denise Crew/Netflix

In der man lernt, wie man Spannleintücher bändigt oder von Dingen sinnvoll Abschied nimmt (und dabei auch von Menschen, wie eine Episode ziemlich eindrucksvoll zeigt). Nun ist das Festhalten an Dingen natürlich eine Typfrage, entspricht aber dem Zeitgeist. In Industrieländern folgt man oft dem Prinzip, Besitz anzuhäufen – bis es einfach zu viel wird. Ein Luxusproblem zwar, aber eben auch ein Problem. Die simple "KonMari"-Lösung: "Macht dich dieses Zeugs wirklich glücklich?" Wenn nicht: Weg damit.

In mir lösen die 45-minütigen Episoden ein wohliges Gefühl aus, vergleichbar mit dem Effekt, den auch sogenannte ASMR -Videos (Autonomous Sensory Meridian Response) erzielen. Diese Videos sind ein Riesentrend im Netz und zeigen ausgeglichene Farbspektren, ineinanderpassende Formen, säuselnde Töne, kurz: die Antithese zum Chaos. Die Machart der Marie-Kondo-Serie läuft ebenfalls mit voller Absicht im Schonwaschgang. Sounddesign, Schnitte, Farbgebung: Jedes Detail erinnert an die flockig dudelnde und dabei nie störende Hintergrundmusik in Supermärkten.

ASMR-Sandspielereien mit 15 Millionen Views, aaaaaah!
Sand Tagious

Die Serie jedoch als reines Relaxprogramm abzutun würde der Kondo-Lehre unrecht tun: Ordnung kann tatsächlich die Wohnqualität und damit sogar das Beziehungsleben verbessern – sofern das alle Beteiligten wollen. Nicht wenige Paare streiten ständig, weil sie es nicht schaffen, im Chaos zurechtzukommen. Wenn Mitglieder eines Haushalts unterschiedliche Schmerzgrenzen haben, was Ordnung betrifft, dann kann das Gift für Beziehungen sein. Und mal ehrlich: Wer kennt diesen Frust nicht? Sei es mit Mitbewohnern, Ehepartnern, Kindern – in der Rolle des messy Übeltäters oder auch in der des Ordnungsfreaks, der andere nerven muss. Der heilige Gral zum happy Familienleben kann die Ordnung allein aber auch nicht sein, selbst wenn das bei Marie Kondo suggeriert wird. Zumal in der Serie die meiste Hausarbeit nach wie vor an den Frauen hängenbleibt. Den Männern zieht Kondo maximal ein halbherziges "Ja, ich werde eh auch immer wieder mal aufräumen" aus der Nase.

In Folge zwei hilft Marie Kondo dem Pensionistenpaar Ron und Wendy. Die beiden haben ihr Haus mit einer unvorstellbaren Menge an Weihnachtsschmuck und Baseballkarten zugeramscht.
Denise Crew/Netflix

Kondos Riesenerfolg lässt sich aber sicher auf einen anderen Aspekt unseres Zeitgeists zurückführen: In einer Zeit, in der uns Meldungen über das erratische Gebaren des US-Präsidenten, Brexit und soziale Abstiegsangst täglich das weltweite Chaos suggerieren, ist die eigene Unterhosenschublade gefühlt einer der letzten Orte, über den man noch Kontrolle hat. Dort lassen sich die Dinge noch glätten (ooommm!), die Ordnung gibt Halt. Klingt biedermeierlich? Egal, ich gehe jetzt meine T-Shirts sortieren. Und Sie sollten das auch tun, Sie werden sehen: Es ist eine Wohltat. Amen. (Lisa Stadler, 5.1.2019)

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Kontra

Putzen ist das neue Yoga. Schon seit Jahren fliegt Aufräumberühmtheit Marie Kondo mit ihren Bestsellerbüchern durch Lebenshilfeuniversum und Popkultur. Mit der pünktlich zu den Neujahrsvorsätzen erschienenen Netflix-Serie "Aufräumen mit Marie Kondo" darf man jetzt acht Familien in Kalifornien dabei zuschauen, wie sie ausmisten.

Der Trailer zu "Aufräumen mit Marie Kondo".
Netflix

Wie eine Elfe flattert Kondo durch die Wohnungen und erklärt, wie man Unterhosen richtig faltet, Besteckschubladen einräumt und sich von Krempel verabschiedet, um ewige Glückseligkeit zu erlangen.

Was gibt es Unoriginelleres, als Leuten beim Aufräumen zuzuschauen? Die zufriedenen Gesichter, wenn sich die Hosen und Hemden nicht mehr über die Möbel verteilen, sind nachvollziehbar. Aber ernsthaft: Wie schwierig ist es, einen Schal zu falten?

Alles, was keine Freude bringt, fliegt raus, das ist das Grundprinzip Kondos. "Does it spark joy?", fragt sie beim Aus sortieren von T-Shirts oder angesichts einer Kiste voller Graffel in der Garage (eine Formulierung, die im Englischen ein bisschen mehr nach glänzenden Augen klingt als in der nüchternen deutschen Fassung).

Kondo macht ihren Job mit sympathischer Strenge, am Ende sind alle ganz ergriffen, sogar Beziehungen werden durch das gemeinsame Ausmisten gekittet. Trotzdem bleibt die Serie seltsam steril, eine allzu weichgespülte Version des Lebens. Ich würde diese Familien ja gerne ein Jahr nach der Visite der Ordnungsfee nochmals sehen, wenn die Abwasch voller Töpfe mit festgepickten Essensreste ist und der Zehnjährige in seinem Haufen aus Gewand, Spielzeug und Schulsachen verzweifelt nach dem Busausweis sucht. Was dann? Wieder alles von vorn?

So ist das nämlich mit dem Aufräumen: Es hält nicht ewig. Außer man kriegt gleich einen Monk’schen Anfall, sobald eine Hose nicht zum Rechteck gefaltet im richtigen Regal liegt. Aber wer hat die Zeit dafür? Und wer will sie sich nehmen?

Das ist Marie Kondo. Sie räumt gerne auf, und hat damit viel Geld verdient.
Denise Crew/Netflix

Da wird das Putzen zur Lebensaufgabe. Und zum Versprechen für ein besseres Leben: Wenn du deinen Kasten in Ordnung hältst, dann wird deine Ehe wieder. "Aufräumen mit Marie Kondo" greift auf den Vorher-nachher-Trick zurück: vorher mit grauem Schleier und besonders unordentlich, nachher mit warmem Licht. Wie auf Instagram: Filter drüber, und selbst eine verdreckte Bude hat irgendwie Charme.

Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich halte sehr viel von Ordnung, miste mindestens zweimal jährlich meinen Kasten aus, in meiner Küche steht nie länger als eine halbe Stunde gebrauchtes Geschirr herum. Aber dieser Aufräumterror ist selbst für mich zu viel.

Spätestens nach der Folge, in der Kondo erklärt, dass ich meine BHs als VIPs behandeln soll (also die Körbchen nicht zerquetschen und nach oben legen), weiß ich: Nein, danke Marie! Meine Geschirrtücher bringen mir keine "Joy". Ich will mich nicht bei meinen Leiberln bedanken, bevor ich sie in Altkleidercontainer schmeiße. Was weg muss, muss weg. Und einigen Kram möchte ich behalten. Selbst eine perfekt aufgeräumte Wohnung ändert nichts daran, dass unser Leben nicht immer perfekt ist. Sonst wäre es auch irgendwie fad. Genauso fad nämlich, wie Fremden beim "Aufräumen" zuzuschauen. (Daniela Rom, 5.1.2019)

Unterwäsche-Falten nach Marie Kondo.
New York Magazine