Teil eins: "Die Feststiege"

Das ist ein einziges Dunkel. Obwohl es in Wien nie wirklich dunkel wird, nicht wahr?

Sie geht in ihrem Kleid über den weiten Heldenplatz, stracks auf die Hofburg zu. Und hinter ihr die Lichter, diese vielen Lichter der Stadt, die nächtens jeden Bau zeigen in Glanz wie auch vor ihr die Hofburg breit und höchlich. Schau hin. Nebel steigt auf von der Erde und feuchtet bereits das Land. Ohne Wind ist's. Die Kälte kriecht wie ein Ungeziefer umher überall, in die Schuhe, unter die Gewänder, dass es die Schultern zusammenzieht vor lauter Frösteln dabei. Sag: Wer hat es so kalt gemacht?

Foto: APA / Herbert Neubauer

Ihre Schuhe hört man auf dem Asphalt. Und Sirenen in der Ferne. Der ganze Platz ist leer, alles schon weit draußen gesperrt. Der erste Bezirk ist abgeriegelt, ja halb Wien, wo erwägt die Polizei, wo Gefahr liegt, und Demonstrationen ziehen außen herum. Doch daselbst ist es ausgestorben. Unruhige Ruhe liegt hier, als tut man unrecht, hier zu sein.

Ihr Weg führt sie vorbei am Äußeren Burgtor, darauf der Schwur Mauthausens in großen Lettern geworfen. Entsetzensvoll zieht sie den Mantelkragen hoch ins Gesicht: Niemand hätte gedacht, dass es so etwas gibt. Niemand hätte gedacht, dass diese Geschichte so endet. So geschieht das aber. Ja, es geben Zeichen, Zeiten, die Tage und Jahre an, dass erneut etwas kommt.

Dann ist sie da. Die Tür steht weit offen, mit einem Teppich davor. In blauem Licht erstrahlt der Eingang, stolz und kostbar. Und doch mutet es an, als wäre es der Seiteneingang.

Mit Festdeckel und ohne

Einiges an Sicherheitspersonal ist postiert, Kameraleute umstehen den Zugang, blenden mit ihren Leuchten die Ankommenden, die nach drinnen drängen. Wägen treffen ein, woraus bekannte oder unbekannte Ämter steigen, dekorierte oder schlicht gekleidete Menschen, mit Festdeckel oder ohne. Manche werden um Interviews gebeten. Photos werden geschossen. Viele wehren ab, halten die Hände vors Gesicht, denn das hier ist ein Ball.

Sie kommt von der Seite und entert, mit der Karte in der Hand. Und schon steht sie in der Schlange, vor und hinter ihr nervöse Debütantinnen. Nicht direkt betreten die Gäste die Feststiege. So einen Umweg nimmt man aber in Kauf, denn Sicherheit geht vor: Alle müssen durch den Sicherheitscheck, bevor sie Teil des Fests sind. Spannung ist merklich. Man ist gespannt, in allen Facetten.

Nach kurzem Anstehen werden die Taschen durchsucht, wie auf dem Flughafen werden Männer, Frauen, Politiker mit einem Metalldetektor untersucht, vom Gesichtsscanner erfasst. Und sie lächelt dem Dienstmann zu, zupft am Pelzmantel, fährt sich über den kalten Hals. Herzlichen Dank.

Den Mantel gibt sie an der Garderobe ab und geht zur Stiege hin. Am erhabenen Aufgang sind sie bereits aufgestellt: die Jünglinge. Stell dir das vor: Wie stolz schauen sie drein, gekleidet in die traditionsreichen Gewänder, Jahrhunderte getragen in dieser ihrer Geschichte. Jeder in seiner Couleur. Ganz bunt schaut das aus, gestreift die Stoffe, mit Kappen auf den Köpfen, barettartig oder gerade. Und einige haben darauf noch Federn zur Zier. Die hohen Stiefel reichen bis zu den Knien. Bei manchen sind sie etwas weit, das gummiartige Material sitzt nicht ganz, ist schon ausgetragen.

Der Saum der Jünglinge fasst die Stiege. Unbeweglich verweilen sie da, mit den Säbeln in Händen. Die Spannung ist nicht nur in ihren Körpern, sie ist ringsum. Die Einlage ist streng, doch bewegungslos, und konzentriert stehen sie, in der Konzentration lethargisch, der Blick in eine Weite gerichtet.

Sie befindet sich nach wie vor in der Empfangshalle, sieht den lachenden oder wartenden Menschen zu, die hier Photos machen. Interessiert begutachtet sie die Blumengestaltung. Ein Gast mit Namen Lukas Posch hält hierzu fest: "Der Blumenschmuck im Eingangsbereich ist symmetrisch um den Aufgang zur Feststiege arrangiert. Aus großen Kupfervasen ragen üppige Buketts aus weißen und roten Rosen, gemischt mit etwas höher gewachsenen Gladiolen in denselben Farben. Daneben sind einige konisch zugeschnittene Buchsbäumchen im Raum platziert. Blickt man an der mit rotem Teppich bedeckten Festtreppe hinauf, befindet sich am Ende links und rechts je eine Reihe aus dichten Buchssträuchern. In deren Mitte umrahmen zwei Zimmerdattelpalmen eine Büste Kaiser Franz Josefs, zu deren Fuße ein weiteres Bukett aus Rosen und Gladiolen steht. Dieses Arrangement bietet den Ballgästen einen attraktiven Hintergrund für Erinnerungsphotos."

Langsam geht sie die Treppe hoch, beidseitig von den Burschen flankiert, an diesen vorbeischreitend. Ihre den Kleidungsbestimmungen angepasste knöchellange Robe hält sie elegant. Wer will stolpern und hinschlagen. Denn das hier ist genau, hoch, rein, wie aufgeladen gerecht, weidlich wichtig in Härte und Zärte, schön und jung, und doch so unbesonders. So nimmt sie jede Stufe.

Wie sie dann einen aus den Reihen der Jünglinge erkennt, das belustigt sie. Einen mit gepuffter kurzer Hose – sie kennt ihn aus den gewissen Lokalitäten. Max heißt er, der am Vortag noch mit aufgestelltem Kragen in der Diskothek war und da ein Mädchen kennengelernt hat. Er denkt sicher nach wie vor an sie und ihr straffes Haar, das alle in der Disko kennen. Vermutlich wäre er jetzt lieber mit ihr unterwegs.

Sein voller Name lautet Maximilian Rudolf von der Venediger Au. Der Vater war da einmal groß, auch im Geschäft. Doch dann wurden die Titel genommen. Jetzt nennt er sich nur noch Max, und in der Szene nennen sie ihn Baron Max. Sie sieht, dass sein hocherhobener Schläger zittert. Das muss die Übermüdung sein. Bei dem Lebenswandel. Und sie schmunzelt.

Gut, dass er sie nicht gesehen hat. Das wäre vielleicht unangenehm, jetzt, wo er den Requisitensäbel hält und in diesen unmodernen Gewändern.

Alle schauen herum

Vor ihr auf der Halbtreppe: die Büste mit den kontrastiv modernen Palmen. Hier verweilt sie kurz und dreht sich herum. Sie sieht noch einmal nach hinten, hin zu Max, dessen Familie ihn in diesem Moment umstellt. Der Vater, der mit Orden behangene Mann und den Furchen in der Visage, die Mutter nobel blass, der Bruder gerade, der Klavierlehrer ernst. Sie lassen sich fotografieren. Doch: Etwas ist anders. Etwas geschieht. Die Augen kneift sie zusammen: Sieht sie richtig? Das glaubst du fast nicht, doch so beginnt es halt. Irgendwo muss es beginnen. Und sie reißt die Augen auf, was sie da sieht mit ihren fleischlichen Augen: Etwas Rotes fährt aus des Vaters Leib in Maxens Gesicht. Max verharrt regungslos. Der Vater fasst sich an den Hals, und er besieht die nicht mehr weißen Handschuhe. Zu seiner Rechten geht ein ebensolcher Schwall aus der Mutter Hals zwischen den Ketten hervor auf Max hin zur Mitte und verteilt sich wie normal auf dessen Augen, seiner Haut. Auch der Bruder hält sich angestrengt zu. Der Klavierlehrer taumelt. Alle schauen herum.

Und schon spritzt es erneut auf Max, aus einem Loch von des Vaters Wange. Aus nur einem? Nein – aus vielen jetzt, wie es scheint. Immer mehr werden das, wie gestanzt ins Fleisch. Es drängt das Blut nach außen von so vielen Öffnungen, aus so vielen Ausgängen aus ihm heraus. Und Max bemerkt erst jetzt sein siechendes Zerlaufen, wie sie aus seinem Mund rinnt, die Leiblichkeit, tief rot und dick. Obwohl er den Mund schließt, läuft das einfach weiter. Bei allen plätschert und spritzt es. Ihre Blicke gehen scharf und ängstlich nach unten auf die eigene Brust hin, wo sich die Gewänder färben ganz rot. Auf der Kleidung zieht das auseinander freilich. Und wie sie so schauen, ist es nicht nur auf ihren Brüsten: Das ist auch bei den Jünglingen. Das ist ringsum. Aus den Hälsern der Burschen fahren dünne Strahlen, gehen in weitem Bogen nach außen, das Blut drängt hinaus aus den Körpern in alle Seiten, wie aus gestochenen Löchern. Es spritzt herum in beweglichen Springbrunnen mit Druck, von den Genicken, aus den Mündern, es fährt aus den Augen, bei manchen viel dicker, bei manchen dünn und wässrig. Was läuft ihnen da aus den Gesichtern. So viel Geblüt. Und schnell laufen sie aus dabei. Wie das auseinanderstirbt!

Dauert es nicht lange, so der Vater kippt und die Mutter derb dazu. Ein Taumeln, ein Stürzen nimmt den Auftakt. Schief stürzen sie. Von oben herab geht es zu nach unten wie aus der Lamäng, und die Jünglinge gehen in alle Seiten nieder, kippen, knicken, fallen, dabei ihr Zeug klappert mit dem Eisen hoch auf. Manche Hüte fliegen von den Köpfen dabei, weit in die Luft mit den Federn. Und alles ist so nass, von Blut in den Gesichtern, auf Händen, auf Gewändern, den Kleidern, weißen Handschuhen, am Boden, dem Teppich, von den Stufen rinnt das Blut, und von wem welches, ist einerlei. Das Stolpern massiv aus der Formation, von so vielen Beschädigten hinab in die Tiefe des Raumes, weil das keine Mär ist, wo man wieder aufsteht von Stein und Erdpech, wenn es dich hinhaut, auch wenn du das jetzt hoffst. Da rollen und purzeln sie also ab. Und dennoch ist es so still dabei. So ausgeschalten wie der Pipsi in deinem Schädel drin. Sie ringen nach Luft gemeinsam und auch zeitgleich. Sag: Warum sagt niemand was?

Sie hebt rasch ihr Kleid und das Geschau hoch, um die letzten Stufen nach oben zu kommen. Hinter ihr nach wie vor leises Poltern und Fallen. Sie beugt sich über das Geländer vom oberen Stock. Sie schaut. Und wie sie schaut. Wer kann das sagen, was das hier soll?

Da unten: alles hin. Doch neben ihr das Treiben und Drängen im Gang vor dem Festsaal. Alle wollen noch rasch ein Getränk, bevor die Reden losgehen. Sehen sie denn nicht mit Augen, wie der Mensch sieht? Sehen sie das nicht?

Ein junger Herr in Festwichs und dunkelgrüner Cerevise grüßt sie höflich. Sie erwidert den Gruß. Und plötzlich legt ihr jemand eine Hand auf die Schulter. (Esther Straganz, Lydia Haider, Album, 5.1.2019)

Fortsetzung folgt