Legt den Finger in die Wunde und zelebriert öffentlich seinen körperlichen Verfall: Michel Houellebecq, die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2014.

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Michel Houellebecq: "Serotonin". Deutsch von Stephan Kleiner. € 24,70 / 335 Seiten. Dumont, Köln 2019

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Es gab Zeiten, in denen die Veranstalter von Diskussionsrunden, zu denen Michel Houellebecq eingeladen war, den Schriftsteller freundlich aber bestimmt baten, er möge bitte davon absehen, sich auf der Bühne ausziehen. Damals, in den frühen 1990er-Jahren, er hatte gerade zwei Gedichtbände vorgelegt, war der literarische Stern Houellebecqs gerade erst im Aufsteigen begriffen. Noch war sein Prosaerstling Ausweitung der Kampfzone (1994), der wie ein Meteor im französischen und internationalen Literaturbetrieb einschlug, noch nicht erschienen.

Seither gilt der 1958 geborene Autor durch Romane wie Elementarteilchen (1999) oder Unterwerfung (2015), in denen er seine Antihelden durch eine Welt ohne Eigenschaften taumeln lässt, als genialer, politisch inkorrekter Provokateur. Wahlweise allerdings auch als "Arschloch" (Dietrich Diedrichsen), Rassist, Reaktionär und Frauenverächter.

"Finger in die Wunde"

All das ist durchaus im Sinn des Autors, der sich von Anfang an als Partyschreck der Hochliteratur präsentierte und seither seinen körperlichen Verfall öffentlich inszeniert. Schon früh, in seinem 1991 erschienen poetischen Manifest Am Leben bleiben postulierte Houellebecq: "Legen Sie Ihren Finger auf die Wunde und drücken Sie fest zu. Schneiden Sie Themen an, von denen niemand etwas hören will. (...) Sprechen Sie von Tod und vom Vergessen. Von der Eifersucht, der Gleichgültigkeit, der Frustration, der Lieblosigkeit. Seien sie niederträchtig, dann werden Sie wahr sein."

Dieser Maxime ist der Fundamentalpessimist, der als eine der ersten literarischen Adressen für Polemik, durchpornografiertes Liebessehnen und existenzielle Verzweiflung gilt, treu geblieben. Wobei seine Romane ein weites Feld umspannen. Sie handeln neben Sex von Massentourismus, Biotechnologie, religiösen Sekten und dem Islam. Dabei thematisiert Houellebecq stets auch die Geworfenheit des von Potenzproblemen und Kastrationsängsten geplagten abendländischen Mannes in ein neoliberales und entsprechend unwirtliches Umfeld.

Nachdem er kürzlich in Harper’s Magazine meinte, Trump sei der beste Präsident aller Zeiten, und damit schon die PR-Trommel für sein neues Buch rührte, legt Houellebecq nun in mehreren Ländern gleichzeitig seinen neuen Roman Serotonin vor. Es ist, um es gleich zu sagen, ein für diesen Autor untypischer Roman. Dies vor allem, weil der Autor den bisher für die Romanform reservierten Realismus mit der Romantik kurzschließt, die sich durch seine Gedichtbände zieht.

Kleine Pille, große Wirkung

Alles beginnt mit einer kleinen, weißen Tablette. Es handelt sich dabei um das neue Psychopharmakon Captorix. Der 46-jährige Erzähler des Romans, Florent-Claude Labrouste, kann es weiß Gott gut brauchen, denn sein Leben ist "am Arsch". Dieser Labrouste ist einer jener Durchschnittscharaktere, für die Houellebecq eine gewisse Vorliebe pflegt. Er ist höherer Beamter im französischen Landwirtschaftsministerium, spricht alkoholischen Getränken aller Art zu und gebärdet sich auch sonst so rüpelhaft, wie man es von Figuren dieses Autors gewohnt ist. Doch er hat noch ganz andere Probleme. Denn: "Die bei Captorix am häufigsten beobachteten unerwünschten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Libidoverlust, Impotenz. Unter Übelkeit habe ich nie gelitten."

Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, Macron jedenfalls ist nicht mehr Präsident – und der Erzähler noch nicht von der chemischen Keule sexuell ruhiggestellt. In der Beziehung mit Yuzu, einer Japanerin aus gutem Haus, läuft es nicht gut, und dies, obwohl sie "auf dem Gebiet des Analverkehrs außer gewöhnlich begabt" ist. Der Icherzähler will sie loswerden – und verschwindet. Er wirft alles in die Waagschale, kündigt den Job, gibt die Wohnung und seine bürgerliche Existenz auf. Geblieben sind ihm das erkleckliche Sümmchen von 700.000 Euro und sein Mercedes-Geländewagen. Mit diesem macht er sich auf den Weg in die Vergangenheit, sprich, er fährt die Stationen seines Lebens ab, die allesamt mit verflossenen Liebschaften verbunden sind. Mit Claire, Kate und vor allem der großen Liebe Camille, mit der er, wie er nun bar jedes sexuellen Triebs feststellt, hätte glücklich werden können.

Weglaufen

Warum er es nicht wurde und auch vor ihr einfach weglief, ist Gegenstand des Romans, der den Erzähler und mit ihm den Leser auf einen Passionsweg und in einen Erinnerungsstrudel führt. Die Einsamkeit, der Schmerz und die Verzagtheit sind in diesem Buch grenzenlos, gerade weil das Glück greifbar gewesen wäre. Der gut übersetzte, in dem scheinbar schmucklosen aber beschreibungspräzisen Houellebecq-Ton gehaltene Roman vollführt eine Kreisbewegung, die in die Vergangenheit des Erzählers führt, um wieder in der Gegenwart zu enden. Die romantische, von Sex befreite Liebessehnsucht, die mit Zitaten des Dichters Alphonse de Lamartine illustriert wird, ergänzt Houellebecq um eine weitere Ebene. In deren Zentrum: Aymeric, ehemaliger Studienkollege des Erzählers an der Hochschule für Landwirtschaft. Im Gegensatz zu Labrouste, der zunächst beim Saatgutgiganten Monsanto arbeitete und später in der Normandie Käse promotete, um im Landwirtschaftsministerium zu enden, ohne dort etwas zum Guten wenden zu können, hat Aymeric auf biologische Milchwirtschaft in der Normandie gesetzt.

Freie Märkte

Die Globalisierung und Senkungen des Milchpreises durch die EU führen Aymeric in den Konkurs. Die Familie zerbricht, so wie sein Lebenswerk. Er ist indes nur einer von zehntausenden Betroffenen. Die empörten Milchbauern der Normandie schreiten zu Gegenmaßnahmen, sie blockieren Straßen. Es wird Tote geben. Der Erzähler, der zu Besuch bei Aymeric weilt, ist live dabei.

Insgesamt nimmt der Roman gegen Ende deutlich Fahrt auf, was auch mit einem Scharfschützengewehr, einer Steyr Mannlicher HS50, zu tun hat, die Aymeric dem Erzähler in die Hand drückt, zum "Üben", wie er sagt. Serotonin handelt jedoch nur passagenweise von freiem Handel und der zunehmenden Regulierung aller Lebensbereiche. Vor allem ist Serotonin ein großer Roman über die Erinnerung, die Shelly einst eine "böse Hexe" nannte. Und es ist ein Buch, das einen neuen Houellebecq zeigt, einen, der an die Möglichkeit des Glücks zumindest glaubt. (Stefan Gmünder, 7.1.2019)