Die 45-jährige Cristiana mit ihrem Sohn Raul.

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Die aktuelle "Biber"-Ausgabe.

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Die März-Ausgabe des Magazins "Biber".

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Am Donnerstag werden zuerst einmal die Rechnungen bezahlt. Cristiana geht frühmorgens zur Bank und begleicht die Kosten für Strom und Gas, für die Schule von Raul sowie die sonstigen Ausgaben, die in ihrer Abwesenheit angefallen sind. Das Geld hat die Rumänin bar aus Österreich mitgebracht. Im Zugabteil. Versteckt irgendwo in ihrem Gepäck. Bereits am Dienstag ist die 45-Jährige am frühen Abend vom Hauptbahnhof in Wien weggefahren. Nach 18 Stunden war sie am Mittwoch in Bukarest. Von dort ist es noch einmal gut eine Stunde mit dem Bus nach Piteşti, eine 165.000 Einwohnerstadt rund 110 Kilometer nördlich von der rumänischen Metropole. Viel schneller würde es nur mit dem Flugzeug gehen: "Das kann ich mir aber nicht leisten".

Seit mehr als vier Jahren arbeitet die Mutter zweier Kinder als 24-Stunden- Pflegerin in Österreich. Ihr Job ist hart, macht ihr aber Freude. Sie betreut Frau Helene (89) und Herrn Karl (91). Das österreichische Ehepaar aus dem 16. Bezirk hat keine Kinder, braucht aber 24-Stunden-Pflege. Von ihrem Einkommen zahlt die Rumänin in Österreich Sozialversicherung. So wie rund 132.000 andere Kinder im Ausland hat daher auch ihr Sohn Raul Anspruch auf Familienbeihilfe.Für einen 11-Jährigen gibt es aktuell 141,50 Euro pro Monat vom Staat. Egal, ob das Kind in Österreich lebt oder nicht. So sieht es das EU-Recht vor.

Das soll auch grundsätzlich so bleiben. Mit einem Unterschied. Die ÖVP/FPÖ-Regierung hat die Höhe der Familienbeihilfe im Ausland an das Preisniveau vor Ort angepasst. Anspruchsberechtigte Kinder in der Schweiz sollen demnach um die Hälfte mehr Geld bekommen, weil das Leben dort laut EU-Statistik um 50 Prozent teurer ist. Kinder in Rumänien müssen hingegen mit einer Halbierung ihrer Familienbeihilfe rechnen, weil dort die Lebenshaltungskosten um 50 Prozent günstiger als in Österreich sind. In Summe spart sich die Regierung mit dieser Idee rund 114 Millionen Euro pro Jahr ein.

Rheuma und Kaiserschmarrn

Für Kanzler Sebastian Kurz ist die "Indexierung" der Familienbeihilfe ein "Schritt für mehr Gerechtigkeit". Für den ÖVP-Chef handelt sich um eine Verzerrung im System, wenn für Kinder in Ländern mit deutlich niedrigeren Lebenshaltungskosten gleich viel Familienbeihilfe gezahlt werde wie für jene in Österreich: "Das war mir schon immer ein Dorn im Auge", so Kurz gegenüber den Medien. Was für Kanzler Kurz mehr Gerechtigkeit bringen soll, kostet die 24-Stunden- Pflegerin Cristiana ab 2019 rund 840 Euro pro Jahr. Sie muss ab 2019 mit 70 Euro pro Monat weniger an Familienbeihilfe rechnen: "Das ist für uns schlimm?" Sie würde doch alles geben in ihrem Job in Österreich.

Tatsächlich macht Cristiana alles für Helene und Karl: vom Waschen und Pflegen bis hin zum Einkaufen und Kochen. Frau Helene hat starkes Rheuma. "In der Früh massiere ich ihr zuerst einmal die Hände, weil sie Schmerzen hat", erzählt Cristiana. Und dann wird gekocht. Alles, was das rot-weiß-rote Herz begehrt: Kohlsuppe oder faschierte Laibchen mit Kartoffelsalat. Danach gibt es oft Kaiserschmarrn oder Apfelstrudel. Kein Wunder, dass Helene und Karl ihre rumänische Pflegekraft sehr schätzen.

Sechs Monate nicht zu Hause

Aber auch Cristiana mag das Austro-Pärchen: "Sie sind so süß". Cristiana teilt sich ihre "zweite Familie", wie sie das alte Wiener Ehepaar liebevoll nennt, mit einer slowakischen Pflegekraft. 14 Tage schupft die Rumänin den Laden, dann übernimmt die Slowakin. Dann ist wieder die Rumänin an der Reihe. Weil Cristiana mehr als 18 Stunden für die rund 950 Kilometer nach Piteşti braucht, bleiben für ihre eigene Familie nicht einmal mehr zwei Wochen zu Hause. Mehr als sechs Monate im Jahr ist Cristiana damit fern ihrer Kinder. Ihre Tochter hat damit kein Problem. Sie ist 24 Jahre alt und studiert in Bukarest Chemie.

Video-Reportage aus Rumänien.
Biber mit Scharf

Doch Raul, ihr 11-jähriger Sohn, leidet darunter. Bereits Tage vor der nächsten Abreise herzt er seine Mama immer wieder und fragt: "Warum musst du so bald wieder fahren?". Zwar kümmert sich Vater Viorel, der seit einem Unfall Invalide ist, gut um Raul und den Haushalt, erzählt Cristiana, aber wenn sie sechs Monate im Jahr nicht daheim sein kann, will sie ihrem Sohn wenigstens die beste Betreuung ermöglichen. So wie in Österreich ist in Rumänien die Schule vormittags gratis. Bezahlt werden muss die Nachmittagsbetreuung. Die "after school" für Raul kostet inklusive Basketball-Kurs 140 Euro pro Monat. "Ich verstehe nicht, warum die Regierung mir jetzt die Familienbeihilfe kürzt", sagt Cristiana und schaut hilfesuchend in die Runde. "Wenn ich nicht da bin, muss das Kind doch betreut werden."

Skypen aus dem Interspar

Ohnehin plagt Cristiana permanent das schlechte Gewissen, nicht genug für ihren Sohn da zu sein. In ihren zwei Stunden Freizeit pro Tag in Wien rennt sie daher schnell aus der Wohnung ihrer Pflegefamilie zum nächsten Interspar – der hat gratis WLAN – und skypet dort mit ihren Liebsten: Wie war die Schule? Was gibt es zu essen? Und hat Raul die Hausübungen gemacht? Und da wäre noch ein Problem. Cristiana scheint zwar diese Art von Frau zu sein, die nie müde wird, trotzdem bleibt selbst ihr keine Zeit mehr für ihren eigenen, kranken Vater. Seit ihre Mama gestorben ist, lebt der alte Mann alleine in einem rumänischen Dorf. "Er ist leider depressiv. Ich habe aber keine Zeit, ihm zu helfen, ich muss Geld verdienen", erzählt Cristiana traurig. Wie das später einmal gehen wird, wenn ihr Vater selbst Pflege braucht? "Keine Ahnung", sagt sie.

Albtraum Demenz

Auch wenn Cristiana mit ihrer Fami
lie in der Strada Libertății ("Straße der Freiheit") lebt, hat sie keine echte Wahl. Ihre Heimatstadt weist für rumänische Verhältnisse ein gutes Busnetz und einen modernen Bahnhof auf. Im Zentrum gibt es eine kleine Fußgängerzone mit McDonald’s, Kentucky Fried Chicken und ein paar netten Restaurants. Was es aber nicht gibt, sind gut bezahlte Jobs für Menschen wie Cristiana. Vor ihrer Zeit als Pfegerin hatte die studierte Chemikerin es noch als Verkäuferin probiert. Bei einem Durchschnittseinkommen zwischen 400 und 500 Euro in Rumänien war aber bereits zu Mitte des Monats Ebbe in der Haushaltskasse. Also absolvierte Cristiana eine Pfegeausbildung und lernte Deutsch. Über eine Agentur bekam sie ihren ersten Job in Wien.

Der Anfang war ein Albtraum. Ihre erste "Kundin" war dement. In der Nacht musste Cristiana die verwirrte Frau ,
eine frühere Ärztin, immer wieder davon abhalten, in die alte Ordination zu gehen. "Ihre Kinder haben mir gesagt, sie haben keine Zeit, um auf ihre Mama zu schauen." Nach 21 "furchtbaren" Tagen schmiss Cristiana die Nerven weg und kündigte. Ihr Plan, jeweils einen Monat in Wien zu arbeiten und dann wieder einen Monat bei ihrer Familie in Rumänien zu sein, wurde begraben: "Das habe ich nicht ausgehalten".

Kaninchen & Krone

Mit Helene und Karl, die laut Cristiana "den ganzen Tag Kronenzeitung lesen", hält sie es hingegen gut aus. Anders als ihre slowakische Kollegin ärgert sich die Rumänin auch nicht über ihr enges Zimmer in der Wohnung des Ehepaars. Kein Wunder: Daheim in Pitești lebt sie mit ihrer Familie auf engen 45 Quadratmeter. Der kleine Balkon des Plattenbaus wird als Speisekammer genutzt. In einer Truhe lagern kiloweise Fleisch von Kaninchen und Hasen, die ihr Mann auf dem Land selbst züchtet. Daneben werden eingelegte Paprika gehortet. Die Küche ist so klein, dass kein Geschirrspüler Platz hat. "Mein Geschirrspüler ist hier", lacht Cristiana und hält beide Hände schüttelnd in die Höhe.

35 Stunden sind genug

Wer so wie Cristiana lebt, der ist auch mit den 954 Euro netto zufrieden, die sie für ihre 14 Tage à 24 Stunden bekommt: Den Betrag bekommt Cristiana 12 mal im Jahr – da sie offiziell selbstständige Pflegerin ist. Die Zugtickets nach Wien und retour kosten pro Monat rund 160 Euro. Bleiben ihr unterm Strich 800 Euro netto. Ein österreichischer Pfleger würde für dieses Geld nicht arbeiten. Im Gegenteil: Gerade proben Österreichs angestellte Pflegekräfte, die ebenfalls schlecht bezahlt werden, mit Warnstreiks den Aufstand. Ihre Forderung neben mehr Gehalt: "35 Stunden Arbeit pro Woche sind genug". Von 35 Stunden pro Woche und 14 Monatsgehältern kann jemand wie Cristiana nur träumen. Mit ihrem Job und Leben ist sie im Prinzip trotzdem zufrieden. Nur, dass die Regierung in Österreich ihr die Kinderbeihilfe um 70 Euro kürzen will, das will ihr nicht in den Kopf: "Wir haben europäische Rechte. Das kann doch nicht ok sein. Warum will das der Herr Kurz?" (Simon Kravagna, Dolmetsch: Volina Serban, 10.1.2019)