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Vor dem britischen Parlament demonstrieren Brexit-Befürworter. Sie berufen sich auf das Ergebnis des Referendums – und wollen in der Regel einen klaren Schnitt.

Foto: Reuters / Matt Dunham

In dieser Woche debattiert das britische Unterhaus erneut über den EU-Austrittsvertrag, und zunächst wirkt die Ausgangslage unverändert. Wie im Advent steuert die Regierung von Premierministerin Theresa May am kommenden Dienstag auf eine saftige Abstimmungsniederlage zu: Den Brexit-Ultras der eigenen Fraktion ist Großbritanniens zukünftige Position gegenüber der EU viel zu nah, den Brexit-Gegnern der Opposition nicht nah genug.

Vergangenen Monat hatte May die Abstimmung kurzfristig abgesagt und damit den Zorn aller Seiten auf sich gezogen. Um die anschließende Vertrauensabstimmung in der Fraktion zu überstehen, erklärte sich die 62-Jährige zur Parteichefin auf Abruf: Sie werde die Tories nicht in die nächste Unterhauswahl führen. Diese ist zwar nominell erst 2022 fällig; bei Londoner Buchmachern kann aber viel Geld gewinnen, wer auf eine Fortsetzung von Mays Amtszeit über das Kalenderjahr hinaus setzt.

Und so haben die Nachfolgekandidaten über Weihnachten ihre Kampagnen begonnen. In den kommenden Wochen und Monaten sollte man Äußerungen britischer Kabinettsmitglieder und anderer prominenter Tories noch genauer als sonst danach beurteilen, welche Ambitionen die Ressortchefs hegen.

Hatte etwa Außenminister Jeremy Hunt wirklich eine grundlegende Neuordnung britischer Außenpolitik im Sinn, als er beim Asienbesuch über Neujahr den Einparteienstaat Singapur lobte und zu Großbritanniens Rolle nach dem Brexit sagte, das Königreich könne "unsichtbares Verbindungsglied zwischen den Demokratien weltweit" werden? Warum das bisher als permanentes Mitglied des UN-Sicherheitsrats relativ sichtbare Land gleichzeitig die Verbindung zur EU abbrechen will, hatte der Sohn eines Admirals schon auf dem Parteitag im Oktober begründet: Da verglich er die EU nämlich mit der früheren Sowjetunion.

Altlast Referendum

Für Hunt wie für Innenminister Sajid Javid scheint beinahe jedes rhetorische Mittel recht, um einen schweren Nachteil im Kampf um den Parteivorsitz zu überwinden: Beide stimmten beim Referendum für den Verbleib, sind also in den Augen des überwiegend EU-feindlichen Tory-Parteivolks suspekt. Dem Statut zufolge küren die rund 125.000 Mitglieder ihren neuen Chef aus zwei Kandidaten, die zuvor die Parlamentsfraktion ausgesucht hat.

Javid brach Ende Dezember eigens den Weihnachtsurlaub ab, um am Ärmelkanal die angebliche Flüchtlingskrise zu besichtigen: Dort sind in den vergangenen Wochen etwa 250 Menschen in Schlauchbooten von Frankreich übergesetzt. Das seien gar keine "richtigen Asylbewerber", behauptete der Migrantensohn Javid – harte Sprüche kommen bei Konservativen gut an, so sein Kalkül.

Der 49-Jährige wäre der erste Angehörige einer ethnischen Minderheit als Leiter einer großen britischen Partei; zudem macht seine persönliche Geschichte – Sohn eines armen Busfahrers aus Pakistan, der sich zum Geschäftsmann hocharbeitete; Absolvent des staatlichen Schulsystems; Investmentbanker mit selbstverdienten Millionen – ihn attraktiv für eine Partei, die gern sozialen Aufstieg durch harte Arbeit propagiert.

Spitze Ellenbogen

Ganz ungeniert sprechen Javids Gefolgsleute davon, man müsse "das Monopol" der weißen Privatschüler brechen, die auf den Elite-Unis von Oxford und Cambridge ihre Netzwerke pflegten – der Seitenhieb richtet sich gegen Hunt ebenso wie gegen Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson oder die Sozialministerin Amber Rudd, die als Kandidatin des eher liberalen Parteiflügels gilt. Umgekehrt gehen auch die Parteifeinde nicht zimperlich mit dem Innenminister um: Kabinettskollegen berichteten dem Boulevardblatt "Sun", dieser spreche neuerdings über sich gern in der dritten Person als "The Sajid".

Freilich kann keiner der Kontrahenten dem Spitzenreiter für die May-Nachfolge das Wasser reichen: Boris Johnson darf auch an diesem Montag wieder die überwiegend konservative Leserschaft des "Daily Telegraph" mit einem rhetorischen Feuerwerk unterhalten. Viele Leser dürften dem Ex-Außenminister nämlich zustimmen, wenn er, wie zu Weihnachten im Magazin "Spectator", die Regierung für ihre "Trägheit" tadelt und warnt: "Wir sind dabei, tausend Jahre Selbstbestimmung aufzugeben." (Sebastian Borger aus London, 9.1.2019)