Es sind die selbstverständlichen Dinge, die plötzlich nicht mehr möglich sind: sich frisieren zum Beispiel, eine Mütze aufsetzen oder ein Glas aus dem Schrank über der Abwasch in der Küche holen. Dafür müsste man den Arm heben. Das geht aber nur, wenn das Schultergelenk intakt ist, denn von dort geht die Bewegung des Armhebens aus. "Das Schultergelenk ist der beweglichste Teil des Körpers und kann durch Überbeanspruchung geschädigt werden", sagt Nina Pühringer, Orthopädin und Unfallchirurgin am Herz-Jesu-Krankenhaus im dritten Bezirk in Wien.

Zusammen mit ihrem Kollegen Stefan Buchleitner arbeitet sie in der Schulterambulanz. Jeden Dienstag kommen schmerzgeplagte Patienten, die in ihrer Bewegung so stark eingeschränkt sind, dass sie ihren Alltag ohne Hilfe kaum mehr bewältigen können. Sie haben Probleme, einen Pulli über den Kopf zu ziehen oder sich den BH zuzumachen. "Die Bewegungseinschränkung kann so weit gehen, dass sich der Arm wie gelähmt anfühlt", hört Pühringer immer wieder von Patienten.

"Der Kopf ist groß und die Pfanne klein" – so beschreiben Orthopäden die Anatomie von Oberarm und Schulterpfanne für Laien.
Foto: Foto: Herz-Jesu Krankenhaus

Diagnose Arthrose

"Bei älteren Patienten mit irreparablen Schäden wie zum Beispiel Arthrose ist eine Schulterprothese oft die letzte Option", sagt sie. Am Herz-Jesu-Krankenhaus spielen dabei ein 3D-Drucker und eine individuelle Computerplanung eine entscheidende Rolle. Sie holt zwei graue Teile aus einer Schublade, die ein bisschen so aussehen wie jene Formationen, die beim Bleigießen zu Silvester entstanden sein könnten, nur größer. Beides sind Schulterblätter, sehen aber unterschiedlich aus. "Diese Unterschiedlichkeit von Patient zu Patient genau zu kennen ist für die Planung einer Operation extrem wichtig", sagt Stefan Buchleitner. Und ja, man könne es mit Gebissabdrücken beim Zahnarzt vergleichen, die seien ja auch alle verschieden.

Zwei Schulterblätter aus dem 3D-Drucker. Sie sind von Mensch zu Mensch vollkommen verschieden. Mit einem Modell können die Operateure im Vorfeld feststellen, wo genau sie die Prothese verankern. Dafür verwenden sie die Werkzeuge links.
Foto: Foto: Herz-Jesu Krankenhaus

In der Ambulanz hat man mit der 3D-Simulation zur OP-Vorbereitung in den letzten Jahren Expertise gesammelt. Weil physiotherapeutische Maßnahmen nicht mehr halfen, wurden im vergangenen Jahr 60-mal Prothesen eingesetzt. "Erfolgreich", sagt Pühringer. Was Erfolg an der Schulterambulanz denn genau bedeutet? "Die Wiederherstellung der Beweglichkeit, Schmerzfreiheit und, vor allem, zufriedene Patienten."

Die Crux für Orthopäden: "Der Kopf ist groß und die Pfanne klein", sagt Pühringer und meint das anatomisch. Mithilfe von CT-Bildern gibt sie einen Crashkurs in Sachen Schulterproblematik. Das Glenohumeralgelenk, die Verbindung zwischen Arm und dem Rumpf des Körpers, ist der Dreh- und Angelpunkt. Das Faszinierende daran ist die Tatsache, dass es sich de facto um eine Halbkugel (das obere Ende des Oberarms) und eine Pfanne (Schulter) handelt, die miteinander durch mehrere Muskeln und die dazugehörenden Sehnen verbunden sind und damit diese erstaunliche Beweglichkeit nach vielen Richtungen gewährleisten. Als Rotatorenmanschette fassen Orthopäden die Muskelgruppe zusammen, die die Beweglichkeit ermöglicht, etwa den Arm heben, nach rückwärts bewegen, anwinkeln, abspreizen und drehen.

Optimale Verankerung

Die Orthopäden legen bei Patienten mit Schulterproblemen ihren Fokus auf zwei Hauptbereiche. Zum einen kontrollieren sie, inwiefern Muskeln und Sehnen an der Rotatorenmanschette intakt sind, bei Stürzen können die Sehnen reißen. "Wir können sie dann fixieren", sagt Buchleitner.

Der zweite Fokus liegt auf dem Gelenk selbst. "Mit höherem Alter kommt es zu Abnützungserscheinungen, es entstehen Knorpelschäden und knöcherne Anbauten, dadurch reibt Knochen auf Knochen, was zu den Schmerzen und Bewegungseinschränkung führt", so Buchleitner, der damit schlichtweg eine Arthrose meint. Oft hängen beide Vorgänge zusammen, ein Sehnenriss führt zu einer Dezentralisierung, und der Oberarmkopf verschiebt sich im Gelenk. Und all das ist ein hochflexibler Bereich, den es im Vorfeld für eine neue Schulter, also dann, wenn Physiotherapie nicht mehr hilft, eingehend per Computersimulation zu analysieren gilt.

Stefan Buchleitner ist Orthopäde an der II. Orthopädischen Abteilung des Herz-Jesu-Krankenhauses. Er betreut die Schulterambulanz dienstags.
Foto: Herz-Jesu Krankenhaus

Konkret bedeutet das, dass man mit den Bildern aus dem Computertomografen ein 3D-Modell erstellt. Auf diese Weise können die Operateure das Schultergelenk am Bildschirm von allen Seiten betrachten und sogar Bewegungen simulieren. "Diese Simulationssoftware ermöglicht es uns, das künstliche Gelenk ganz genau einzupassen, da wir damit sogar überprüfen können, wie sich die neue Prothese in Bewegung verhalten wird. So können wir den perfekten Winkel, in dem das künstliche Gelenk verankert werden soll, exakt bestimmen. Wir sehen dabei auch Fehlstellungen, die wir durch eine Prothese ausgleichen müssen."

Prothesen aus dem 3D-Drucker

Ohne diese Computersimulation müssten Orthopäden wichtige Entscheidungen am OP-Tisch treffen, und das, obwohl dieser Bereich des Körpers für Chirurgen nur sehr schwer zugänglich ist. An den zwei Schulterblättern aus dem 3D-Drucker demonstriert Buchleitner, inwiefern die unterschiedliche Anatomie auch den Verankerungspunkt für die Prothese bestimmt. "Mithilfe des Computers ist es tatsächlich möglich, maßgeschneiderte Lösungen zu erarbeiten", so Pühringer, die die 3D-Simulation in ihrer Funktion mit einer Wasserwaage vergleicht, "damit können wir beim Operieren eine optimale Prothesenimplantation gewährleisten", sagt sie.

Nina Pühringer ist Orthopädin und Unfallchirurgin an der II. Orthopädischen Abteilung des Herz-Jesu-Krankenhauses. Auch sie sitzt in der Schulterambulanz.
Foto: Foto: Herz-Jesu Krankenhaus

Eines Tages könnte es sein, dass auch die Prothese selbst aus dem 3D-Drucker kommt und in den Körper eingesetzt wird, einstweilen sind Computersimulationen und die grauen dreidimensionalen Ausdrucke nur Werkzeuge und eine Hilfestellung für Orthopäden. Eine gut sitzende Prothese hat viele Vorteile: Der Alltag ist wieder leicht zu bewältigen, es gibt kein Auskugeln mehr und keine Schmerzen. (Karin Pollack, 22.1.2019)