Sara Koenen ist Schauspielerin und Autorin und eine beherzte Fürsprecherin der Waldorfpädagogik des Anthroposophen Rudolf Steiner. In einem Beitrag für den Blog "Erziehungskunst – Waldorfpädagogik heute" nimmt sie uns mit auf ein tolles Abenteuer: eine metaphorische Bergtour mit ihren ungeimpften Kindern. Der Titel ihres Aufsatzes von 2015: "Masern zwischen Mut und Meinung". Die mutige Entscheidung, ihre Töchter vor der MMR-Immunisierung (Masern, Mumps, Röteln) zu verschonen, den hatte sie in einem "individuellen Impfentscheid" schon lange zuvor gefällt. Vorab sei verraten: Die Kinder sind wohlbehalten zurück vom "Bergabenteuer" und sie haben auch einen "großen Entwicklungsschritt getan". Das ist eine Erfahrung, die dem tumben, geimpften Pöbel bekanntlich versagt ist.

Zurück zum Abenteuer: Eine Tochter Koenens scheint sich bei Freunden mit Masern infiziert zu haben. Die beiden anderen Töchter wird es zu Hause danach wohl auch erwischen. Immerhin lässt Koenen die schulpflichtigen Mädels nicht mehr zur Schule gehen, aber sie beklagt auch ein wenig die übermotivierten Gesundheitsbehörden: "Absurder Weise [sic] führte der Quarantäneplan von Schule und Gesundheitsamt (Ausschluss vom Schulunterricht) indirekt erst zur Infektion." 

Masern sorgen für "eine tiefgehende Reifung des Kindes"

Die Mutter hört sich bei anthroposophischen Ärzten um. In diesen Kreisen gibt man der Krankheit einen Sinn. Ein Merkblatt der anthroposophischen Ärztegilde empfiehlt: "Die Frage nach dem möglichen Sinn einer Krankheit wird nur selten gestellt. Aufmerksame Eltern erleben gerade bei den Masern oft eine tiefgreifende Reifung ihres Kindes." Sollte es mit den Masern nicht klappen, tut auch anderwertiges Fieber Gutes: "Wenn ein Kind keine Masern bekommt, kann seine Entwicklung durch eine geeignete Pädagogik und das Durchmachen anderer fieberhafter Erkrankungen unterstützt werden."

Nicht nur Ärzte werden von Koenen konsultiert, auch in Steiners "Offenbarungen des Karma" wird nachgelesen. Der Guru der Waldorf-Community konstatierte 1906: "Es gibt keine Möglichkeit, der Krankheit zu entkommen, wenn man die Gesundheit haben will. (…) Wollen wir die Stärke, die Gesundheit, dann müssen wir ihre Vorbedingung, die Krankheit, mit in Kauf nehmen. Wollen wir stark sein, dann müssen wir uns gegen die Schwäche schützen, indem wir die Schwäche in uns aufnehmen und in Stärke verwandeln."

Masern, das ist wie eine Bergtour 

Einer der konsultierten Ärzte beruhigt die Mutter Koenen, Komplikationen bei Masern kenne er nicht aus der Praxis. Ein anderer setzt ihr den Floh ins Ohr: "Masern durchmachen ist wie in die Berge gehen." Koenen fantasiert ganz ohne Fieber, als würde sie soeben entspannt im Frühtau zu den Bergen aufbrechen: "Jeder Atemzug, jeder Schritt, kann schmerzen, kann sich aber auch lohnen. Wenn ich den Gipfel erreicht habe: welch ein Triumph! Ich habe es geschafft! Die Aussicht. Eine ganz neue Sichtweise. Ich bin über mich hinausgewachsen, blicke klar in eine neue Ferne, habe meinen Horizont erweitert. Und dann bin ich über den Berg."

"Über den Berg sein" kann man auch mit einer MMR-Impfung. Ist weniger gefährlich.
Foto: APA/AFP/SCHNEYDER MENDOZA

Die Euphorie lässt die Frau ein wenig vergessen, dass es nicht um sie, sondern um ihre minderjährigen Kinder geht. Die Mädels werden krank, eine erwischt es schlimm. Die "Bergtour" scheint nicht ganz ohne zu sein, aber Koenen findet schöne Worte für die große Herausforderung: "Es geht ins Hochgebirge." Tochter Maya fiebert mit knapp 40 Grad und Koenen sieht Berge in Flammen. "Ich bin in eine Lawine geraten. Maya entgleitet mir." Die "Bergrettung" ist das nächste Krankenhaus. Koenen nennt das: "Zuflucht in der Berghütte".

Die Ärzte im Krankenhaus: ein "Ufoteam" bestaunt Masern

Dort ist man recht unentspannt ob der ansteckenden Krankheit, die Hüttengaudi bleibt vorerst aus. "Zwei Männer im kompletten Seuchenkostüm, Ganzkörperanzug, Mundschutz, Überschuhe, Handschuhe" – das Auftreten irritiert Koenen. Sie nennt die Ärzte daher "Ufoteam". Das sind jetzt offensichtlich keine anthroposophischen Ärzte mehr und vom Karma hält das "Ufoteam" scheinbar auch nicht viel.

Dafür seien die "Schulmediziner" ganz schön neugierig. Koenen notiert: "Die Ärzte erfreuen sich an den schönen sich ihnen präsentierenden Masernbildern. Alle kommen zur Visite, es wird deutlich, dass die Masern selten geworden sind, ehrfurchtsvoll und mehr oder weniger in die obligatorischen Schutzkleider gehüllt, stehen sie alle vor den Betten, vom Chefarzt bis zum Praktikanten, begutachten die Verläufe und können wunderbar vergleichen. Da wird auch mal fotografiert." Mutter Koenen ist stolz auf die schneidige Seilschaft ihrer Töchter, die im Krankenhaus lediglich einen kleinen Zwischenstopp einzulegen scheinen. 

Nicht jeder kommt über den Berg

Die Sache geht letztlich gut aus für die drei Mädchen, es wird Zeit für Koenen, Resümee zu ziehen: "Wir feiern die gesunde Wiederkehr von der großen Masern-Bergtour mit einem gemeinsamen Ausflug zum Baggersee." Koenen zitiert auch ihre Tochter. "Und ich werde nicht vergessen, wie Maya ganz oben auf dem Gipfel des Fiebers aus tiefstem Herzen zu mir sagte: Mama! Wenn ich mal Kinder habe, dürfen sie auch die Masern bekommen!"

Die Gipfelsieg-Metapher lässt Koenen keine Ruhe, schließlich kommt nicht jeder wohlbehalten zurück von den Gipfeln und Graten des Maserngebirges: "Mit Ehrfurcht erfüllt mich der Berg. Manche sind umgekehrt. Manche haben es nicht geschafft." Das Leben ist hart, nicht alle Mütter können so tolle Berichte von überstandenen Bergfahrten schreiben. Der "Berg" fordert Opfer, das sind im Waldorfschen Karma-Kaleidoskop vermutlich epidemiologische Halbschuhtouristen.

35 Maserntote gab es in Europa im Jahr 2017. Die Tendenz geht steil nach oben. Impfverweigerer werden von der WHO mittlerweile als "globale Bedrohung" bezeichnet. Die Damen und Herrn haben einfach keinen Sinn für Abenteuer und Masernromantik. (Christian Kreil, 28.1.2019)

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