Der Innenminister erklärt beiläufig, dass das Recht der Politik dienen müsse und nicht umgekehrt. Der erwartbare Sturm der Empörung bricht los. Wie konnte er nur?

Aber die Wogen der Aufregung verdecken den elementaren Sachverhalt. Die Bemerkung ist ziemlich dumm. Sie ist es deswegen, weil sie sogleich auf das Verhalten des Innenministers selbst hätte angewendet werden können. Kickl schadet dem Ansehen der Republik. Er ist politisch untragbar. Also sollte man ihn wegsperren. Sein Recht auf persönliche Freiheit "dient" zu nichts, wenn das nationale Interesse auf dem Spiel steht. Außerdem widerspricht sich die Aussage selbst. Sie fordert gegenüber dem positiven Recht ein höheres Recht der Politik ein. Die Rechtsordnung müsse sich dem Vorrecht der Politik unterordnen, das Recht beliebig festzulegen.

Zu einem solchen "Sager" würde der Innenminister sich nicht haben hinreißen lassen, hätte er über die Angelegenheit nachgedacht. Nicht wahr?

Wechselspiel aus Provokation und Empörung

Aber wer hat schon Zeit zum Nachdenken? Und wer sollte denn die Lust dazu verspüren, wenn es so viel Spaß macht, für liberale Kreise den Schurken zu markieren. Brav und vorhersehbar mokieren sich die Vertreter des Juste Milieu über jeden unbedachten Halbsatz aus dem "rechten Eck". Das Wechselspiel von Provokation und Empörung gefällt den Parteigängern des Provokateurs. Tabubruch nährt Populismus.

Der Spaß wird umso größer, je deutlicher das öffentliche Schauspiel die mangelnde Stärke des Juste Milieus entblößt. Auf den unbedachten Sager folgen artige Hinweise auf den "Verfassungsrang" der Menschenrechtskonvention oder darauf, dass der Staatsnotstand, auf den sich der Innenminister beruft, kein Begriff der österreichischen Verfassungsordnung sei. Hinter solchen Stellungnahmen steht die alte josephinische Tugend "wertfreier" Systemerhaltung. Ihrem Bann können sich selbst Höchstrichter nicht entziehen. Besser formal argumentieren! Und selbst wenn Prinzipien beschworen werden, wird in der Aufhebung der Menschenrechtskonvention das Ende des Rechtsstaats gesehen. Das ist gewiss gut gemeint.

Kein Zufall

In Österreich fällt damit aber dem Vergessen anheim, dass die Europäische Menschenrechtskonvention ein wichtiges politisches Ziel verfolgt. Sie ist geschlossen worden, um in Europa das "backsliding" der Nachkriegsdemokratien ins Autoritäre zu verhindern. Die Grundidee ist, Menschenrechtsverstöße als Anzeichen für das Auftreten von "tyrannischen Mehrheiten" zu deuten. Die Mehrheitstyrannei ist der Beginn vom Ende der liberalen Demokratie. Die populistisch aufgehetzte Herrschaft der Mehrheit entledigt sich schnell der Fesseln der demokratischen Kontrolle und zementiert sich ein (siehe Orbán).

Die EMRK hatte schon immer Politiker vom Schlage eines Kickl auf dem Kieker. Gerade für Leute wie ihn ist sie entwickelt worden. Es entspringt keinem Zufall, dass er nun gegen sie auftritt.

Auch die Berufung auf "Notstand" gehört seit dem 17. Jahrhundert ins Standardrepertoire der politischen Führungskräfte, welche – wie einst der König – die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung für nicht "dienlich" halten. Schon das englische Parlament reagierte damals mit der schlauen Beobachtung, dass, wer "Notstand" sagt, höchstwahrscheinlich lügt. Kickl spielt als Innenminister mit der Opposition zum europäischen Verfassungsstaat. Das Wegsperren ist keine verfassungsrechtlich zulässige Option. Aber über die Entlassung muss man reden. Diese Diskussion hat schon begonnen. Der Worte sind nun bald genug gewechselt. Wir wollen auch Taten sehen. (Alexander Somek, 27.1.2019)