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Ein Kind schreibt Slogans auf eine improvisierte Grenzmauer bei einer Anti-Brexit-Kundgebung in Irland.

Foto: Reuters/CLODAGH KILCOYNE

Die Europäische Union hat beim Brexit ein ähnliches Problem wie Extrembergsteiger beim Erklimmen eines Achttausenders im Himalaja. Am Ende kommt man in die Todeszone. Wer nun einen blöden Fehler macht oder in dieser finalen Phase vor dem Gipfel eine gravierende Fehleinschätzung des Wetters vornimmt, bringt die ganze Seilschaft in Gefahr.

Also muss im Basislager eine Entscheidung getroffen werden: Weitergehen mit dem Risiko, dass dort ein Eissturz abgeht? Oder Abbruch und Verschiebung, um es später noch einmal zu versuchen?

Die Verhandler des Vereinigten Königreichs und der 27 EU-Partner müssen zwar nicht jenseits von 7.500 Meter Seehöhe hinauf. Sie haben ein anderes Ziel im Auge: den 29. März, Mitternacht. Das ist nicht weniger gefährlich. Zu diesem Zeitpunkt sollen 66 Millionen Briten keine EU-Bürger mehr sein, genau zwei Jahre nachdem Premierministerin Theresa May den Wunsch danach in Brüssel deponiert hat.

Diese Frist ist so im EU-Vertrag vorgesehen, sollte nichts anderes beschlossen werden. Der 29. März ist indirekt aber mit einem zweiten, für die EU-27 extrem wichtigen Termin verbunden: dem 23. bis 26. Mai 2019.

Ungelöste Brexit-Frage kollidiert mit Wahlen

An diesen vier Tagen gibt es Europawahlen, wobei Österreich sich auf den 26. Mai als nationalen Wahltag festgelegt hat. Es werden zunächst die neuen Abgeordneten des EU-Parlaments gewählt (das Mitte April seine letzte Plenartagung in der laufenden Legislaturperiode hat). Statt bisher 751 Mandatare soll es nur noch 705 geben. Ohne Briten. Nach der Konstituierung des Parlaments im Juli würde dann im Plenum gleich der neue Präsident der EU-Kommission gewählt. Der stellt über den Sommer sein Team zusammen. Im Herbst präsentiert er sein Regierungsprogramm.

Die ungelöste Brexit-Frage kollidierte also mit den EU-Wahlen. Sollte es bis Ende März kein geregeltes Abkommen geben, müsste UK im Extremfall eben ungeregelt austreten. Ein solcher No-Deal-Brexit wäre wirtschaftlich und politisch katastrophal. Daher will May den vereinbarten, im Unterhaus gescheiterten Entwurf zum Austrittsvertrag "aufmachen" und verhandeln, was die EU-27 bisher strikt ablehnten.

Es gibt ein Patt, wobei beide Seiten dennoch betonen, dass ein Chaos-Brexit am 29. März "um jeden Preis" vermieden werden soll.

Gefahr der Wahlaufhebung

Ausgehend von Abgeordneten des EU-Parlaments gewinnt daher ein weiteres Szenario an Boden: Brexit verschieben. Es gibt dazu zwei Varianten. Man verschiebt gleich um ein ganzes Jahr, die Briten wählen mit, und man würde dann sehen, was aus dem Brexit wird. Oder man verschiebt nur um drei Monate, die EU-Wahl findet ohne Briten statt, der Brexit kommt vor Juli.

Gemäß EU-Vertrag muss ein Mitgliedsland Europawahlen durchführen. Die Bürger haben als EU-Bürger ein Recht darauf, egal in welchem EU-Land sie wohnen – auch rund 3,4 Millionen nichtbritische EU-Bürger, die in Großbritannien leben und arbeiten.

Die Sache hat aber mehrere große Haken. Bei einer Verschiebung um ein Jahr würde das Ringen um den Brexit im Herbst frisch weitergehen und wie ein Damoklesschwert über der neuen EU-Kommission und dem Parlament schweben. Eine weitere Lähmung der Politik der EU-27 wäre garantiert.

Mögliche Klage

Die britische Regierung hat bisher auch keine Anstalten gemacht, EU-Wahlen durchzuführen. Wahlrechtsexperten im EU-Parlament raufen sich die Haare bei der Aussicht, dass Großbritannien mitwählt, aber es wegen Unregelmäßigkeiten vielleicht zu einer Klage auf Aufhebung beim Europäischen Gerichtshof kommt.

Das wäre auch bei einer Verschiebung um nur drei Monate nicht ausgeschlossen. Juristisch könnte das Parlament seine Geschäftsordnung vielleicht so abändern, dass ein vorläufiges "Aussetzen" Großbritanniens bei der EU-Wahl formell möglich wird. Ob das vor dem EuGH hielte, weiß niemand. Es kam so noch nie vor. Es wäre ein großes Risiko für die künftige EU der 27.

Am Mittwochabend wird EU-Ratspräsident Donald Tusk mit May telefonieren, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Tusk hatte bereits kurz nach den Abstimmungen im britischen Parlament bekräftigt, dass es keine Nachverhandlungen geben wird. (Thomas Mayer aus Brüssel, 30.1.2019, aktualisiert, in einer früheren Version war Ende März als Datum der letzten Plenartagung angegeben, richtig ist Mitte April)