"Die Kinder der Toten", nach einem Anti-Heimat-Roman von Elfriede Jelinek, besticht durch Patina.

Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion

Zahlenspiele sind auf der Berlinale gerade beliebt. Der Wettbewerb ist mit 17 konkurrierenden Filmen dieses Jahr beispielsweise etwas schmal geraten. Umso mehr fällt dafür ins Gewicht, dass sieben Filme von Regisseurinnen sind. Das ist in Cannes oder Venedig bekanntlich noch ganz anders, und man zeigt dort bisher auch wenig Wille zur Veränderung. Den entschlossenen Schritt Richtung Chancengleichheit kann man dem scheidenden Direktor Dieter Kosslick zugute halten, der mit solcher Politik erfreulich selbstverständlich verfährt.

Eine der Newcomerinnen im Wettbewerb ist etwa die Deutsche Nora Fingscheidt, die nach preisgekrönten Kurzfilmen nun ihr Langfilmdebüt "Systemsprenger" vorstellt. Systemsprenger nennt man Kinder, die sich in kein erzieherisches Modell integrieren lassen. Mit der neunjährigen Benni (Helena Zengel), auch "Kampfzwerg" genannt, hat der Film dafür eine einprägsame Heldin. Sie flucht wie ein Berserker, bekommt laufend Zornausbrüche und schreckt auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück.

Verfahren gegen Priester

Das Gute an Fingscheidts Erzählansatz ist, dass dieser frei von pädagogischem Eifer ist. Stattdessen zeigt sie, wie jeder Versuch, gegenüber dem Kind Vertrauen aufzubauen, an systemischen Engpässen scheitern muss. Weil der Film den Zuschauer mit den Affektausbrüchen Bennis regelrecht befeuert, empfindet man diesen streckenweise selbst wie einen Belastungstest. Fingscheidts Perspektive sucht diese Brennpunkte, spitzt sie noch zu. Bisweilen auch zu stark, wenn sie in stakkatohaften Bild-Ton-Montagen einen Blick ins Innere wirft.

Mars Films

Kontroverses bietet auch Francois Ozons Grâce à Dieu, der schon im Vorfeld des Festivals für Schlagzeilen sorgte, weil in Frankreich ein Anwalt gerade den Filmstart zu verhindern versucht. Der Grund: Das Verfahren gegen den katholischen Priester Bernard Preynat, dem etliche sexuelle Übergriffe an Buben zur Last gelegt werden, ist noch am Laufen.

Der Film rückt allerdings weniger Preynat ins Zentrum, sondern den langjährigen Kampf der Missbrauchsopfer selbst. Anhand von drei nun erwachsenen Männern aus unterschiedlichen Milieus erzählt Ozon davon, wie schwierig es ist, sich solcher Traumata aus der Kindheit zu stellen. Nicht nur die eigene Scham, sondern auch eine ablehnende Öffentlichkeit, nicht zuletzt die Kirche selbst stehen dem Vorhaben entgegen.

Roman gegen Heimat

Die instruktive Art und Weise, mit der Ozon die Notwendigkeit einer gemeinsamen Initiative der Opfer thematisiert, erinnert an das Aids-Aktvistendrama 120 BPM. Auch hier wird viel in der Gruppe ausverhandelt, intensive Überzeugungsarbeit geleistet. Das gerät stellenweise etwas trocken. Schwung bekommt der Film jedoch durch seine Darsteller, den bulligen, aufbrausenden Denis Ménochet und Swann Arlaud, der die Langzeitfolgen des Missbrauchs in seiner ganzen Erscheinung auszustrahlen scheint.

Andere Fragen stellt man sich hingegen in "Die Kinder der Toten" – etwa, warum noch niemand früher auf die Idee gekommen ist, Palatschinken als Horrormasken zu zweckentfremden. Die gehören zu den Attraktionen des Films vom US-Regieduo Kelly Copper und Pavel Liska, besser bekannt als Nature Theater of Oklahoma, das bereits mehrmals in Wien und Graz zu Gast war. Sie haben Elfriede Jelineks Anti-Heimat-Roman als Meta-Trash-Experiment in die Landschaft gesetzt: gedreht auf 666 Schmalfilmrollen, unter Mithilfe passionierter Amateure.

Kein Diesseits ohne Jenseits

Copper und Liska beweisen für die Adaption von Jelineks Text die richtige Portion Kühnheit. "Die Kinder der Toten" ist ein Zombiefilm, der selbst ein wenig so wirkt, als wäre er aus dem Boden ausgegraben worden.

Es gibt darin kein Diesseits ohne Jenseits, das Unheimliche scheint ins Material eingeschrieben zu sein. Am fantastischen Stummfilm angelehnt, durchkreuzen Doppelgänger, Widergänger, Untote den Film. Einmal wirken sie grotesk, ein anderes Mal scheinen sie wie aus einem gespenstisch-romantischen Veit-Harlan-Film der Dreißigerjahre entstiegen. Als stimmige Ergänzung erweist sich die Idee, eine Gruppe syrischer Poeten in den Film zu schleusen – das zieht eine aktuelle Ebene ein. (Dominik Kamalzadeh, 10.2. 2019)