Felwine Sarr legte gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy einen Bericht zur Rückgabe französischer Kolonialgüter vor.

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Elend und Hunger, Krieg, Terror und Rückständigkeit: Auch fünfzig Jahre nach dem Ende der Kolonialzeit ist die Sicht des Westens auf den afrikanischen Kontinent dominiert von erdrückenden Befunden und Stereotypen, berechnet nach westlichen Maßstäben. Und noch immer erklärt die sogenannte entwickelte Welt der zu entwickelnden Welt schulmeisternd, was sie zu tun habe. Damit muss Schluss sein, fordert Felwine Sarr. Denn aus "Entwicklung" sei längst eine "Einwicklung" geworden, in ein System, das nicht zu Afrikas Kulturen und seinen Menschen passe.

Der senegalesische Schriftsteller, Musiker und Professor für Wirtschaftswissenschaften zählt zu den aktuell meistgehörten Intellektuellen Afrikas. Im November 2018 veröffentlichte der 46-Jährige gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy einen von Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Bericht zur etwaigen Rückgabe kolonialer Raubkunst an die Ursprungsregionen – ein vieldiskutiertes Thema, das die Hüter der völkerkundlichen Sammlungen in westlichen Museen spaltet. Für Felwine Sarr wäre dieser symbolische Akt der Wiedergutmachung für millionenfachen Völkermord, Sklaverei und rücksichtslose Ausbeutung, die die ehemaligen Kolonialherren Afrika über Jahrhunderte hinweg angetan haben, aber nur ein kleines Mosaiksteinchen.

"Homo africanus" ist kein "Homo oeconomicus"

In seinem jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen, so poetisch-pathetisch wie faktenbasiert verfassten Essay Afrotopia skizziert Sarr seine große Vision für den Kontinent. Afrika, meint Sarr, "muss gegenüber niemandem aufholen. Es hat nicht mehr auf jenen Pfaden zu laufen, die man ihm zuweist, sondern sollte zügig den Weg gehen, den es selbst gewählt hat." Den übergestülpten Entwicklungskonzepten erteilt Sarr eine Absage, es gelte, ein Wirtschaftsmodell zu wählen, das den von der Kolonialgeschichte verschütteten afrikanischen Kulturen entspricht: kollektivistischer, nachhaltiger in Bezug auf Mensch, Tier und Natur, weniger berechnend auf Gewinn fokussiert. "Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus im strengen Sinn", schreibt Sarr. "Die Motive seiner Entscheidungen sind geprägt von Logiken der Ehre, der Umverteilung (...), der Gabe beziehungsweise Gegengabe."

Überwindung der Kollektivkränkung

Dieser Blick auf das moralische Grundgerüst "der Afrikaner" mag vielleicht zu optimistisch ausfallen, aber Sarr geht es eben um die Formulierung einer utopischen Erzählung, um die Begründung eines selbstbewussten, panafrikanischen Mythos, an dem sich ein ganzer Kontinent aufrichten und orientieren können soll. Voraussetzung der ökonomischen Neuerfindung sei allerdings eine Art afrikanische Renaissance, eine Kulturrevolution, die die vorkoloniale Geschichte Afrikas für eine selbstbestimmte Zukunft fruchtbar machen soll.

Der Autor fordert die Überwindung der kollektiven Kränkungen. An deren Stelle treten soll die Wiederentdeckung alter Traditionen, afrikanischer Sprachen, Musik und Kunst. Den Weg weisen würden Literaten und Musiker der Gegenwart, leise Hoffnung setzt Sarr auch in die Afrikanische Union, vor allem aber in kommende Generationen gut ausgebildeter, vernetzter Menschen. Afrotopia ist eine aufrüttelnde Streitschrift für alle, die sich im Schatten gegenwärtiger Globalisierung einen afrikanischen Sonderweg vorstellen können.(Stefan Weiss, 16.2.2019)