Alain Finkielkraut wurde wüst beschimpft.

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Seit drei Monaten gehen die Gilets jaunes auf die Straße, um auf Missstände in Frankreich aufmerksam zu machen. Doch die Bewegung wird immer stärker von Hooligans, Rechtsextremen und sogar von Islamisten vereinnahmt.

Tausende Gelbwesten gingen an diesem Wochenende auf die Straße, um ihr dreimonatiges Bestehen zu feiern. Die Stimmung war sonnig, der Himmel frühlingshaft blau – dennoch: Sowohl die sozialen wie auch die anderen Medien in Frankreich berichteten bloß über die zunehmend düstere Kehrseite der Bürgerbewegung.

Konkret geht es um zwei Videos. Das eine filmte ein Polizist aus seinem Auto heraus; man sieht, wie sein Wagen minutenlang mit schweren Steinen beworfen wird. Er schaltet die Sirene ein, versucht zu entkommen, ist aber zwischen zwei Autokolonnen eingezwängt. Die Fahrerin, eine junge Polizeiaspirantin, beginnt zu schluchzen, während es Steine hagelt. Ein vermummter Aggressor springt auf die Kühlerhaube. Endlich entkommt der Wagen dem Mob.

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Ein zweites Video zeigt Alain Finkielkraut. Der 69-jährige Philosoph wurde bei einem Umzug der Gelbwesten im Pariser Viertel Montparnasse von mehreren Aktivisten auf dem Gehsteig wüst beschimpft. Einer schrie: "Wir sind das Volk, Frankreich gehört uns!", gefolgt von: "Hau ab, Scheißzionist!"

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Die Polizei schützte den prominenten Vertreter der Gelehrtengesellschaft Académie française, der für seine konservativen – manche sagen: reaktionären – Ansichten landesweit bekannt ist.

Debatte um Antisemitismus

Finkielkraut erklärte, der Antisemitismus sei unter den Gelbwesten weit verbreitet und vereine Linksaktivisten, Banlieue-Bewohner sowie Anhänger des Rechtsextremisten Alain Soral. Nur wenige Stimmen – wie der den Sozialisten nahestehende Anwalt Jean-Pierre Mignard – meinten, Finkielkraut habe nicht zum ersten Mal die Provokation "gesucht".

Die Chefs aller großen Parteien – darunter Staatspräsident Emmanuel Macron, aber auch die Rechte Marine Le Pen und Éric Coquerel von der Linkspartei LFI – verurteilten den Angriff. Letzterer präzisierte allerdings, er wäre nicht bereit, die Ausweitung des Antisemitismus-Tatbestandes mitzutragen. Der Macron-Abgeordnete Sylvain Maillard hatte nämlich einen Parlamentsvorstoß angekündigt, um nicht nur antijüdische, sondern auch antizionistische Aussagen unter Strafe zu stellen.

Später wurde bekannt, dass der Hauptaggressor gegen Finkielkraut der salafistischen Szene zugerechnet werde. Der Name des Mannes wurde vorerst nicht veröffentlicht – was für Frankreich unüblich ist. Die Staatsanwaltschaft kündigte aber die Eröffnung eines Strafverfahrens an.

Nach einer für Montagabend in Paris geplanten Kundgebung gegen Antisemitismus lädt die sozialistische Partei PS für heute, Dienstag, alle Parteien – mit Ausnahme von Le Pens Rassemblement National – zu einer großen Demonstration mit dem gleichen Ziel ein.

Die tatsächlich schon vergangene Woche geplante Aktion soll keine direkte Reaktion auf die Vorfälle mit den Gelbwesten sein, sondern auf die allgemeine Zunahme antisemitischer Vorfälle in Frankreich um 74 Prozent hinweisen. Trotzdem überlagert die Frage der Gewalt zunehmend die sozialen Anliegen der Bürgerbewegung. "Le Parisien" titelte am Montag: "Genug von diesem Hass!" Der Historiker Denis Peschanski erklärte, er sei sprachlos über das "Ausmaß an Hass", der derzeit in seinem Land grassiere.

Schon vor diesen Vorfällen wandte sich dieser Tage erstmals eine Umfragemehrheit gegen die Gelbwesten: 52 Prozent der Befragten äußerten den Wunsch, dass die Bewegung ihre Aktionen abbrechen solle. Viele Franzosen, die deren Anliegen an sich positiv gegenüberstehen, goutieren nicht länger, dass extremistische Wort- und Rädelsführer die unorganisierte Bewegung in ein undemokratisches Fahrwasser führen. Davon zeugen die Angriffe auf den Wohn- oder Arbeitsort von über 60 Abgeordneten der Macron-Partei La République en Marche in den vergangenen Wochen.

Spektakuläre Aktionen

Mit solchen rabiaten Aktionen schaden die Gilets jaunes letztlich ihren eigenen Anliegen. Die durchaus pazifistische Mehrheit scheint machtlos gegen die Machenschaften der Ultras. Von Beginn an hatte sie die Gewaltausbrüche auf den Champs-Élysées meist nur halbherzig verurteilt. Selbst die gewaltlosen Blockierer ländlicher Kreisverkehre sagen mit einem gewissen Recht, dass sie es nur dann "in die Medien" schaffen, wenn sie spektakuläre Aktionen durchziehen.

Diese Ambivalenz rächt sich heute, verliert doch die Bewegung ohnehin an Fahrt und Breitenwirkung; und umso mehr gerät sie ins Fahrwasser weniger, aber sehr entschlossener Rechts- und Linksextremisten – und neuerdings sogar von Islamisten.

Verblüffend ist, dass Macron in Umfragen kaum davon profitieren kann: Der Präsident bleibt unpopulär. Seine "große Debatte" über soziale und politische Fragen weckt zudem im ganzen Land große Erwartungen, die Macron angesichts einer leeren Staatskasse kaum erfüllen kann.

Das ist nicht nur ein Problem für Macron: Das in der Gelbwesten-Krise aufgeworfene Grundproblem – der Abstieg der Mittelschicht – bleibt ungelöst. Dies dürfte erklären, warum die Gelbwesten bisher überhaupt durchhalten konnten. Aber wenn ihre Bewegung auch abflauen mag: Der Volkszorn bleibt intakt. So schnell kommt Frankreich nicht aus der sozialpolitischen Sackgasse. (Stefan Brändle aus Paris, 18.2.2019)