Ist die britische Regierungschefin Theresa May mittlerweile eine Gefangene ihrer eigenen Brexit-Politik? Sie muss jedenfalls aufpassen, dass ihr nicht Gefolgsleute abhandenkommen.

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Sind es zwei, vier oder sogar ein halbes Dutzend Abgeordnete? Am Dienstag verlagerte sich in London die Spekulation über Parteiabtrünnige von der Labour-Opposition auf die konservative Regierungspartei von Premierministerin Theresa May.

Der Sprecher des am Montag bei Labour ausgetretenen Septetts, Chuka Umunna, möchte bis Jahresende eine neue Partei gründen. Sie solle in der Mitte des politischen Spektrums angesiedelt sein, sagte er am Dienstag der BBC. Ausdrücklich lud er auch Abgeordnete anderer Strömungen ein, sich seiner jetzt noch "Unabhängigen Gruppe" anzuschließen.

Bei den Sozialdemokraten unter Jeremy Corbyn wird heftig diskutiert, wie zukünftig mit der Abspaltung umgegangen werden soll. Die Fraktionssitzung am Montagabend verlief stürmisch. Der Corbyn-Getreue Ian Lavery wehrte sich empört gegen den Vorwurf des Septetts, bei Labour handle es sich um eine "institutionell antisemitische" Partei. Kritiker der Parteiführung erregten sich über eine ausgerechnet ebenfalls am Montag bekanntgewordene Personalie: Nach längerer Prüfung hat die Partei den Linksaußen Derek Hatton wiederaufgenommen. In seiner Zeit als Kommunalpolitiker in Liverpool war der trotzkistische Feuerwehrmann in den 1980er-Jahren mit der damaligen Führung unter Neil Kinnock in Konflikt geraten und aus der Partei geworfen worden.

"Intensiv zuhören"

In Interviews zeigten Abgeordnete des rechten Flügels Verständnis für die Abtrünnigen. "Ich hoffe schon", antwortete Siobhain McDonagh, Umunnas Wahlkreisnachbarin, auf die Frage, ob sie auch in einem Monat noch Labour angehören werde. Mindestens ein Dutzend überwiegend älterer, erfahrener Parlamentarier gelten als Wackelkandidaten. "Wir müssen sehr intensiv zuhören", sagte Labour-Finanzsprecher John McDonnell am Dienstag in einer Geste der Versöhnung gegenüber Kritikern. Noch am Montag hatte McDonnell das Septett zur Rückgabe seiner Mandate aufgefordert. Dies lehnen die Unabhängigen mit Verweis auf die dann notwendigen Nachwahlen ab, die in die Brexit-Endphase fallen würden.

Der Austrittstermin Ende März, mehr noch aber die für kommende Woche geplante Abstimmung über das Austrittspaket beschäftigt führende Konservative. Offenbar nutzte ein Kabinettsquartett, angeführt von Sozialministerin Amber Rudd, am Montag die Ablenkung der Labour-Spaltung, um bei May vorstellig zu werden: Bis zu zwei Dutzend EU-freundliche Minister und Staatssekretäre, so sollen sie gedroht haben, würden zurücktreten, falls May nächste Woche nicht endlich den Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung vom Tisch nimmt. Die Rebellen könnten dann einem Gesetzesentwurf zustimmen, der die Verschiebung des Austrittstermins (29. März) noch möglich macht.

Freilich gibt es unter den konservativen Brexit-Gegnern heftige Meinungsunterschiede über die richtige Taktik. So erregen sich manche über den "rückgratlosen" Finanzminister Philip Hammond. Dessen Alliierte gaben der "Financial Times" zu Protokoll, der 63-Jährige sei altmodisch und drohe grundsätzlich nicht mit Rücktritt. Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft gibt es genug, obwohl nicht alle direkt mit dem Brexit in Zusammenhang stehen. Der japanische Autobauer Honda kündigte am Dienstag die Schließung seiner Fabrik in Swindon binnen drei Jahren an. Damit geht der Verlust von 3.500 Arbeitsplätzen einher. Vor kurzem hatte Nissan eine Investitionszusage zurückgezogen, Jaguar Landrover plant den Abbau von 4.500 Arbeitsplätzen.

Wieder nach Brüssel

May konzentriert ihre Überzeugungsarbeit nach wie vor auf Brexit-Befürworter, die gegen den Austrittsvertrag Bedenken haben, sich aber auch mit dem No-Deal-Brexit nicht anfreunden können. Eine für Dienstag angekündigte Regierungserklärung zum Streit um die rechtliche Situation Nordirlands wurde verschoben.

Stattdessen will May am Mittwoch einmal mehr nach Brüssel fliegen, um Möglichkeiten für einen Durchbruch in den festgefahrenen Brexit-Gesprächen auszuloten. Am Abend trifft sie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, wie ein EU-Sprecher am Dienstag mitteilte. Auch Brexit-Minister Stephen Barclay und Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox wollten am Mittwoch erneut in Brüssel vorstellig werden. Da sie als Brexit-Anhänger gelten, ist ihre Unterstützung für May unerlässlich. Eine Reihe von Hinterbänklern dürfte sich an Cox und dessen juristischer Interpretation des Austrittsvertrages orientieren.

Die Spekulationen um mögliche neue Rekruten für die Unabhängige Gruppe ranken sich hingegen um klare Brexit-Gegner bei den Konservativen – wie die frühere Wirtschaftsstaatssekretärin Anna Soubry oder die Chefin des Gesundheitsausschusses, Sarah Woollaston. Sämtliche vermeintlichen Wackelkandidaten hielten sich am Dienstag bedeckt. (Sebastian Borger aus London, 20.2.2019)