Für den Spitzenkandidaten der ÖVP bei den EU-Wahlen ist der FPÖ-Spitzenkandidat ein ziemlich fremdes Wesen. "Ich habe mit ihm noch nie einen Kaffee getrunken", sagt Othmar Karas auf die Frage, welches Verhältnis er zu Harald Vilimsky im EU-Parlament pflege. Der Freiheitliche sei unter den österreichischen EU-Abgeordneten "der Einzige, den ich als Mensch nicht kenne. Ich weiß nicht, was er in Brüssel und Straßburg tut."

Das sitzt. Dabei meint Karas das – durchaus glaubhaft – gar nicht persönlich. Es ist nur so, dass der 61-jährige Lehrersohn aus Ybbs vom Politikverständnis her genau das Gegenteil dessen verkörpert, was den aus Wien-Favoriten stammenden Vilimsky auszeichnet.

Der detailverliebte Chef der ÖVP-Delegation in Straßburg ist dafür bekannt, sich in den Fachausschüssen monatelang mit Finessen der komplexen Europapolitik herumzuschlagen, um Kompromisse zu suchen. Das macht er seit 1999 so als EU-Mandatar in Brüssel und Straßburg, zuletzt etwa führend bei den EU-Banken- und Finanzregelungen.

ÖVP-Spitzenkandidat Othmar Karas mit EVP-Frontmann Manfred Weber, der nächster EU-Kommissionspräsident werden will.
Foto: APA / Hans Punz

Karas war lange Vizepräsident seiner EVP-Fraktion, 2012 bis 2014 auch Vizepräsident des Parlaments. Ein Ämtermulti. Er hat mit Ursula Stenzel und Ernst Strasser zwei Delegationsleiter der ÖVP ausgesessen, die ihm vorgezogen worden waren. Karas sei inzwischen ein guter Stratege, habe als Generalist den Überblick, meint ein Parteifreund.

Bereits vor einem Jahr begründete Vilimsky im STANDARD-Interview, worum es ihm im Match mit Karas geht: Der ÖVP-Mann würde "in absolutem Widerspruch zu seiner Partei agieren". Er erwarte, dass ÖVP-Chef Kanzler Sebastian Kurz einen anderen Spitzenkandidaten bringen werde. Und Vilimsky kündigte an, dass er alle drei Rechtsfraktionen zu einer großen Gruppe im EU-Parlament vereinen will – gerne auch Viktor Orbáns Fidesz, wenn die Christdemokraten sie ausschlössen. Sein Ziel: Macht um jeden Preis, die EU zurückstutzen. Karas, der in ÖVP-Kreisen als "Paradeeuropäer" in der Tradition des legendären Außenministers, "Mr. Europa" Alois Mock, gesehen wird, sollte präventiv beschädigt werden. Das ist misslungen.

Handelseins mit Kurz

Denn Kurz und Karas wurden um Weihnachten handelseins. Sie brauchen einander. Ihr Deal: Kurz knabbert an der FPÖ-Wählerschaft. Der sich als Supereuropäer gerierende Karas wirkt weit in liberale und grüne Wählerschichten hinein. Er bringt zusätzlich ein paar Prozentpunkte. Innenstaatssekretärin Karoline Edtstadler, die für einen rechteren Kurs steht als der liberale Niederösterreicher, sekundiert als Nummer zwei.

Das alles macht den EU-Wahlkampf innerhalb der türkis-blauen Regierung zu einem koalitionären Stimmungstest. Vilimsky warf Karas Anfang Jänner "den Fehdehandschuh ins Gesicht". Den will Karas nicht aufnehmen. Er sieht die Aufgabe des Politikers nicht darin, sich "als Einpeitscher gegen andere" zu betätigen, "immer nur gegen etwas zu sein, Feindbilder zu erzeugen, den Menschen Angst zu machen, ständig Schuldige zu suchen", wie er sagt: "Mit dieser Art der Politik kann ich nichts anfangen." Aber den Populismus müsse man bekämpfen, auch wenn das manche in der ÖVP irritiere. Karas ist dabei ganz auf der Linie der christdemokratischen Fraktion (EVP). Es gibt einen Präsidiumsbeschluss, der EVP-Abgeordneten jede Zusammenarbeit mit der ENF-Fraktion untersagt.

Harmoniebedürftig, streitbar in der Sache

Deshalb hat auch Fraktionschef und EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber, der nächster EU-Kommissionspräsident werden will, die EU-Skeptiker der ENF mit der FPÖ zu Hauptgegnern erklärt. Karas, der (wie Kurz) ein enges Verhältnis zu dem aus Bayern stammenden Weber pflegt, passt das gut. Die EU, das gemeinsame Europa inklusive Euro und offene Grenzen, gemeinschaftliche Lösungen bei den großen Problemen wie Migration oder bei der Bekämpfung der Steuerflucht, das alles sei für ihn nicht nur ein Herzensanliegen, beteuert er. Er sei "zutiefst davon überzeugt", dass der EU-Beitritt und die weitere Integration für Österreich und "für die Bürger vorteilhaft" seien.

Dafür wolle er weiterhin mit aller Kraft arbeiten, sagt Karas, Bündnisse schmieden – auch gegen Attacken des Koalitionspartners gegen die EU-Politik. Lieber wäre ihm ein positiver Zugang: "Ich bin sehr harmoniebedürftig, streitbar in der Sache, aber kompromissorientiert."

Ein Marathonpolitiker

Das klingt aus Karas' Mund alles immer ein wenig pathetisch. Er hat die Tendenz, getragen und ausschweifend zu reden, seine EU-Position mit einer gewissen Verbissenheit vorzutragen, was auch Parteifreunde in Sitzungen nervt.

Aber die EU-Fundamente des Abgeordneten, der mit der Tochter von Exbundespräsident Kurt Waldheim verheiratet ist, sind tief – und schwarz. Sie stammen aus einer Zeit, in der die damalige EG in Wien ein Sehnsuchtsraum war. Man muss sehr weit zurückschauen, um diesen Marathonmann der Innenpolitik, der zehn ÖVP-Chefs überlebt hat, zu verstehen: Karas ist der älteste aktive Politiker Österreichs – seit 1979 im Geschäft.

Im Zeitraffer: Klassensprecher, Schulsprecher, 1976 Matura, Jusstudent, Chef der Jungen ÖVP (wie Kurz), 1981 Mitglied im Bundesparteivorstand – fünf Jahre bevor der Kanzler auf die Welt kommt. 1985 stellt Karas als Abgeordneter im Nationalrat mit anderen ÖVP-Abgeordeten einen Antrag auf Annäherung Österreichs an die EG.

Er engagierte sich 1984 parteiübergreifend gegen den Bau des Kraftwerks Hainburg, für die Friedensbewegung, pflegte Kontakte zur SPÖ, zu den damals neuen Grünen. Den Beginn der Waldheimaffäre 1986 verschläft er: Nach einem Autounfall lag er damals wochenlang im Koma. 1995 machte ihn Wolfgang Schüssel zum ÖVP-Generalsekretär. 1999 wird Karas erstmals EU-Abgeordneter. Seither kämpft er kompromisslos für seine EU-Linie, überlebte alle parteiinternen Versuche, ihn – den Unbequemen – zu verdrängen. Nun ist er überzeugt, dass er Vilimsky besiegen wird, er sei sich treu geblieben: "Ich kann mich im Spiegel anschauen." (Thomas Mayer, 23.2.2019)