Das Aufeinandertreffen von Kühen und Menschen wird sich nicht verhindern lassen. Es sicher zu gestalten, ist mehr als nur eine Frage der Haftung.

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Innsbruck – Die Familienwanderung wurde urplötzlich zum Kampf auf Leben und Tod. Am 18. Oktober 2008 hatte der Optiker Andreas Freisinger aus Bad Vöslau mit seiner Frau, den beiden Kindern und dem Familienhund, einem Bernhardinermischling, eine Herbstwanderung auf den Schneeberg in Niederösterreich unternommen. Der markierte Wanderweg von Puchberg nach Rohrbach führte die Wandergruppe durch eine mit Stacheldraht eingezäunte Kuhweide. Für die bergerfahrenen Eltern, die gerne mehrtägige, hochalpine Touren unternahmen, nichts Ungewöhnliches.

Doch an diesem Tag passierte etwas, das Familie Freisinger so noch nicht erlebt hatte. Während sie die Weide durchquerte, entdeckte sie plötzlich die Kuhherde bei einer Baumgruppe. Die Tiere waren offenbar aufgebracht und näherten sich der Familie. Die Eltern erkannten die Gefahr. Während seine Frau mit dem Hund in die eine Richtung flüchtete, ging der Vater mit den Kindern in die andere, um sie dort außerhalb des Zauns in Sicherheit zu bringen.

In Panik hatte sich der Hund losgerissen und war verschwunden. Nach etwa zehn Minuten, die Lage hatte sich beruhigt und die Kühe waren außer Sichtweite, durchquerte Freisinger noch einmal allein die Weide, um den Hund zu suchen. Nur ein einzelnes, friedlich wirkendes Rind stand noch in der Nähe. Freisinger passierte das Tier, als er plötzlich ein Traben hinter sich vernahm. Ehe er sich der Gefahr bewusst wurde, attackierte ihn die Kuh.

Kuh versuchte den Kopf zu treffen

"Es ging sehr schnell. Sie hat mich umgestoßen und sofort begonnen, auf mich zu springen", erinnert er sich an den Todeskampf. Wenn Kühe attackieren, versuchen sie ihr Opfer zu zertrampeln: "Sie hat immer wieder versucht, mich mit den Hufen am Kopf zu treffen." Freisinger war zum Unfallzeitpunkt in sehr guter körperlicher Verfassung. Das habe sein Leben gerettet, glaubt er heute: "Ich konnte sie mit den Füßen am Euter treten und habe versucht, gegen ihren Kopf zu schlagen." Irgendwann ließ das Tier von ihm ab. Schwerst verletzt schleppte er sich auf die andere Seite des Zauns. Sein Brustkorb war auf der linken Seite praktisch zermalmt, die Rippen serienweise gebrochen. Zwerchfell und Lunge waren von Knochen durchbohrt worden.

Erst nach zehn Tagen konnte der Optiker die Intensivstation verlassen. Er war Opfer der Mutterkuhherde eines Biobauern geworden. Freisinger strengte auf Anraten eines befreundeten Juristen eine zivilrechtliche Klage gegen den Tierhalter an und verlor diese in zwei Instanzen. Dann gab er auf. Ein Sachverständiger stellte damals fest, dass es mindestens eine halbe Stunde dauert, bis sich aufgebrachte Rinder wieder beruhigen. So ist es zu erklären, warum Freisinger attackiert wurde, obwohl er weder einen Hund bei sich führte noch das Rind auf andere Art reizte. Die Kuh war schlichtweg noch in Panik.

"Niemand redet darüber, Unfälle zu vermeiden"

Die Aufregung um das Kuhurteil in Tirol von vergangener Woche ließ Andreas Freisingers Erinnerungen wieder hochkommen. "Was mich an all dem so stört, ist, dass nur über die Rechte des Bauern gesprochen wird und wie man ihn schadlos hält. Aber niemand redet über Maßnahmen, wie man solche Unfälle künftig vermeiden könnte", ärgert sich Freisinger.

Im Tiroler Fall wurde 2014 eine deutsche Urlauberin, die mit ihrem Hund wandern war, von einer Mutterkuhherde attackiert und tödlich verletzt. Auch diese Tiere waren offenbar wegen eines Zwischenfalls kurz zuvor aufgebracht gewesen, von dem die Getötete, die auf einer Gemeindestraße unterwegs war, nichts wissen konnte. Im Zivilprozess wurde der Tierhalter nun in erster Instanz zu hohen Schadenersatzleistungen an die Hinterbliebenen verurteilt. Das löste umgehend einen Sturm der Entrüstung aus. Politiker fast jeder Couleur schwangen sich zu Verfechtern des Bauernstands auf. Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP), sprach gar von einem "Fehlurteil". Und das, obwohl das Innsbrucker Landesgericht seine Entscheidung auf 104 Seiten begründet hat.

Eilig wurde am vergangenen Mittwoch in Tirol ein runder Tisch mit Experten aus Landwirtschaft und Tourismus einberufen. Ihr Fazit: Man müsse nun alles unternehmen, um die Almbauern schadlos zu halten. Sowohl im gegenständlichen Fall als auch pauschal in Zukunft, sollte so etwas wieder passieren.

Gesetzesänderung und Versicherung

Dafür werden nun sogar Gesetze umgeschrieben. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) meldete sich persönlich zu Wort und beauftragte Justiz- sowie Landwirtschaftsministerium damit, das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch dahingehend zu ändern, dass solche Urteile nicht mehr möglich sind. Das Land Tirol will zudem das Almwirtschaftsgesetz reformieren, um die Eigenverantwortung der Wanderer stärker hervorzuheben, und man wird eine eigene Versicherung für Almbauern schaffen.

Wer die Kosten dafür trägt, ist offen. Landeshauptmann Platter ging so weit zu versprechen, dass man den vom Urteil betroffenen Bauern nicht alleinlassen werde, auch wenn die Schadenersatzforderungen in den nächsten Instanzen bestätigt würden. Dass der Landwirt ohnehin eine Haftpflichtversicherung hat, die in der Regel neben dem Schadenersatz auch für die Prozesskosten aufkommt, blieb unerwähnt.

Selbst viele Medien stimmten bereitwillig in den Chor der Bauernschützer mit ein. Der Schauspieler und Paradetiroler Tobias Moretti rückte im Stallgewand aus, um in breitem Dialekt Verhaltensregeln für Hundehalter zu erklären. Der beklagte Landwirt, der für ein Gespräch mit dem STANDARD nicht erreichbar war, wurde in einem rührseligen ORF-Beitrag als ärmlicher Bauer präsentiert, der um seine Existenz fürchten müsse, weil eine deutsche Touristin nicht wusste, wie sie sich in den Bergen zu verhalten hat.

Verquickte Interessen

Doch so einfach ist der Fall nicht. Dass der Bauer, wie viele seiner Standeskollegen in Tirol, selbst am Tourismus verdient und zusätzlich zur Landwirtschaft, die er als Nebenerwerb betreibt, Apartments vermietet, wurde ausgespart. Doch die Verquickung von Tourismus und Landwirtschaft wirft ebenso Fragen nach Verantwortung auf. Immerhin verdient Tirol gut an den jährlich über sechs Millionen Sommerurlaubern. Sie allein in die Pflicht zu nehmen greife zu kurz, sagt Jurist Andreas Brugger, der die Tiroler Liaison zwischen Politik und Landwirtschaft seit den Prozessen um die Agrargemeinschaften bestens kennt: "Man spricht jetzt nur darüber, wie man die Bauern künftig vor Ansprüchen schützen kann. Der Schutz von Leib und Leben, um den es eigentlich gehen sollte, scheint weniger wichtig zu sein."

Das Tiroler Unglück war im Pinnistal, einem Seitental des touristisch intensiv genutzten Stubaitals, passiert. Wandern ist hier Verkaufsargument Nummer eins. Wer es zu Fuß nicht auf den Berg schafft, den karren Shuttletaxis oder die Gondel hinauf. Auch der Beklagte bietet im Pinnistal für seine Apartmentgäste Almfrühstück inklusive Shuttleservice an. Trotzdem sei die im Urteil eingeforderte Verantwortung zur sicheren Verwahrung der Kühe für den Almbauern unzumutbar, behaupten die Funktionäre der Landwirtschaftskammer. Man werde eben Almen für Wanderer sperren müssen, drohen die Bauernvertreter.

Dabei wäre ein verantwortungsvolles Miteinander durchaus möglich. Denn seit dem Unglück ist die Gemeindestraße ins Pinnistal mit einem Zaun gesichert. Die überschaubaren Kosten dafür teilen sich der örtliche Tourismusverband und der beklagte Landwirt. (Steffen Arora, 2.3.2019)