Elmar Brok ist unter den EU-Abgeordneten in Straßburg eine Ausnahmeerscheinung. Der Christdemokrat aus Deutschland gehört dem Europäischen Parlament seit 1980 an, hat alle acht bisherigen Legislaturperioden seit Einführung des Direktwahlrechts 1979 erlebt. In diese Zeit fielen die EU-Beitritte von Griechenland (1981), Spanien und Portugal (beide 1986) ebenso wie die Einführung des Binnenmarktes (1985), des Euro (1998), die deutsche Wiedervereinigung (1990), die große Osterweiterung (2004 und 2007) zur heutigen Union mit 28 Mitgliedstaaten.

Der 72-Jährige tritt bei den Wahlen im Mai nicht mehr an, aber Brok zieht im STANDARD eine Zwischenbilanz über 40 Jahre Europapolitik: "Das Wichtigste ist, dass man zu seinen Positionen steht", sagt er, "nicht versucht, die anderen auszutricksen. Man muss Brücken bauen, die Positionen der anderen sehen, lieber einmal verlieren. Sonst geht es schief."

Elmar Brok tritt bei den Wahlen im Mai nicht mehr an.
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Dass die EU-Skeptiker und Rechtspopulisten bei den EU-Wahlen den Durchmarsch schaffen, glaubt er nicht: "Wir müssen sie bekämpfen, müssen sie eingrenzen. Und bessere Politik machen. Wir dürfen uns nicht an der AfD ausrichten", erklärt Brok, "wir müssen unsere eigenen Leistungen zeigen, positiv darstellen, was wir in Europa zustande gebracht haben, konstruktiv sein. Wir reden viel zu viel über die AfD, über Le Pen. In dem Moment hat man schon verloren."

Dass Großbritannien die EU verlässt, sei "ein großer Schaden, für alle". Aber der Doyen des EU-Parlaments hat eine Hoffnung: "Ich gehe davon aus, dass Großbritannien in zehn Jahren wieder einen EU-Antrag stellen wird."

STANDARD: Wie war die Arbeit im Europaparlament, als Sie Abgeordneter wurden?

Brok: Da war noch nicht viel von Europa. Das war ein bisschen Zollunion. Nicht viel mehr. Sechs Gründerstaaten mit Deutschland und Frankreich, die Beneluxstaaten, auch Italien gehörte dazu. 1973 waren die Freihändler im Norden dazugekommen, Großbritannien, Irland, Dänemark. Es ging viel um Freihandel, die Aufhebung der Zölle, Agrarpolitik.

STANDARD: Wie heute wieder. Was trieb die Abgeordneten um?

Brok: Vom Binnenmarkt, wie wir das heute kennen, oder von der Währungsunion war zunächst noch nichts zu sehen. Auch nicht von Schengen und den offenen Grenzen. Das Parlament hatte außer in der Haushaltsfrage nichts zu sagen, rein gar nichts. Wir konnten nur Stellungnahmen abgeben, die aber kaum gelesen wurden.

STANDARD: Klingt politisch frustrierend.

Brok: Es kamen aber Ende der 1970er-Jahre zwei wichtige Elemente dazu. Man sprach damals von Eurosklerose, und weil sich nichts bewegte, haben der deutsche Kanzler Helmut Schmidt und der französische Präsident Valery Giscard d‘Estaing die Direktwahl des Europäischen Parlaments eingeführt. Sie wollten Dynamik reinbringen. Daraus ist dann mehr geworden, als die beiden vermutlich vorausgesehen hatten.

STANDARD: Inwiefern?

Brok: Ab 1979 war das Schicksal der Europaabgeordneten mit dem Erfolg ihrer Institution verbunden. Bis dahin waren sie von den nationalen Parlamenten nur ins Europäische Parlament delegiert. Sie waren gleichzeitig auch nationale Abgeordnete. Das war ein netter Job, man fuhr einmal im Monat nach Luxemburg oder Straßburg. Mit der Direktwahl waren plötzlich Leute da, die Biss und Ehrgeiz hatten, hauptberuflich tätig. Ein starker Antrieb waren die Briten, vor allem die Konservativen, die treibende Kräfte im Parlament waren.

STANDARD: Das klingt wie eine verkehrte Welt. Am 29. März soll Großbritannien aus der EU austreten.

Brok: Die Briten haben den freien Markt angetrieben, waren die Väter des gemeinsamen Binnenmarktes. Und was heute kaum einer weiß, Jacques Delors wurde schon 1979 Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Europäischen Parlament.

STANDARD: Der spätere Präsident der EU-Kommission, der 1985 das Konzept zum Binnenmarkt und dann zur Wirtschafts- und Währungsunion erstellte, war EU-Abgeordneter?

Brok: Genau, bevor er 1981 vom französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand nach Paris gerufen und zum Finanz- und Wirtschaftsminister gemacht wurde. Delors hat diesen Wirtschafts- und Währungsausschuss vorangetrieben. Neben ihm gab es noch Sir Fred Catherwood aus Cambridge, der sich sehr für eine gemeinsame Währung einsetzte.

STANDARD: Franzosen und Briten waren also die Avantgarde damals?

Brok: Ja. Der Brite Lord Cockfield wurde Kommissar für Binnenmarkt, Steuern und Zölle, gleichzeitig Vizepräsident der EU-Kommission. Er gilt als Vater des Binnenmarktes, neben Jacques Delors.

STANDARD: Das kam also aus dem EU-Parlament?

Brok: Delors hat das angestoßen, die Briten wollten den Binnenmarkt unbedingt haben, auch Margret Thatcher. Und in Deutschland war Helmut Kohl ab 1982 Kanzler.

STANDARD: Was denken Sie sich als EU-Abgeordneter, wenn es fast 40 Jahre später die britischen Konservativen waren, die den Brexit veranlassten?

Brok: Es sind zwei Dinge schiefgegangen. Wir waren nie in der Lage, den Briten zu erklären, dass die Gemeinschaft auch ein politisches Projekt ist, nicht nur ein wirtschaftliches. Zweitens, wenn man jahrzehntelang schlecht über etwas redet wie die britischen Politiker über die EU, muss irgendwann zur Kenntnis nehmen, dass einem die Bürger das glauben.

STANDARD: Warum ist das schiefgegangen?

Brok: Die Briten waren in den 1970er-Jahren wirtschaftlich im Eimer. Der Beitritt zur EWG hat sie da herausgeholt. Aber es war dann schon früh klar, dass es um ein politisches Projekt geht, mit Kohl, Mitterrand, Delors. Die drei wollten mehr als nur gemeinsame Agrarpolitik und offene Marktwirtschaft. Es ging zunächst um den Binnenmarkt, und beim EU-Gipfel 1988 wurde die Arbeitsgruppe Währungsunion eingesetzt, von Kohl. Delors übernahm die Leitung mit den Chefs der Zentralbanken. Zunächst hatte man sich nur die Wirtschafts- und Währungsunion vorgenommen. Aber dann kam nach den Umbrüchen von 1989, mit dem Fall der Mauer, die deutsche Einheit 1990.

STANDARD: Was bedeutete das für den weiteren Prozess?

Brok: Mitterrand hat von Kohl verlangt, dass man zur Währungsunion dazu auch eine politische Union schafft. Viele sagen, Mitterrand habe Kohl gezwungen, die D-Mark aufzugeben für die deutsche Einheit. Das ist falsch. Manche sagen, wir Deutschen seien erpresst worden. Das ist nicht wahr. Es war 1988 schon die Auffassung da, dass man eine Währungsunion nicht wieder auseinander reißen kann. Kohl hat oft das Beispiel genannt, wenn man ein Rührei zubereitet, kann man es nicht in seine einzelnen Teile zurückverwandeln. Mitterrand wollte mit der Währungsunion die Zusage von Deutschland, dass es politisch, außenpolitisch keine eigenen Wege geht.

STANDARD: Ist der Brexit eine späte Folge dessen, dass die Briten mit der Einigung von Deutschland und Frankreich auf eine politische Union weggedriftet sind?

Brok: Sie waren damals noch voll und ganz an Bord. Das Konzept des Binnenmarktes ist ja erst 1993 voll verwirklicht worden. Thatcher trat 1990 zurück. Ihr Nachfolger John Major war sehr aufgeschlossen.

STANDARD: Die Sozialdemokraten hatten nach der ersten Direktwahl 1979 mit 113 Mandaten die Mehrheit, die Christdemokraten stellten 107 Abgeordnete, die Konservativen 64, vor allem Briten. Und es gab 22 Gaullisten, 44 Kommunisten. Klingt sehr überschaubar.

Brok: Die Gaullisten haben wir dann zu uns rüber gezogen, dann auch die Konservativen. Es war viele Jahre so, dass die britischen Wahlen über die Mehrheit im Europäischen Parlament entscheiden haben. Die hatten das Mehrheitswahlrecht, was zu großen Mandatsverschiebungen führte, je nachdem wer vorne lag.

STANDARD: Von 410 Abgeordneten gab es nur elf Nationalisten und neun Fraktionslose. Skeptiker spielten offenbar keine Rolle. Heute reden alle von den Rechtspopulisten. Wie kam das?

Brok: Es gab damals eine andere Art von Nationalismus, die Gaullisten waren nationalistisch, auch die britische Labour Party. Aber sie stellten nicht Demokratie und Rechtsstaat infrage, so wie das heute bei den Rechtspopulisten der Fall ist. Das ist der große Unterschied. Das gab es früher nicht. Wir müssen heute die Sorge haben, dass von Parteien wieder die Systemfrage gestellt wird, dass das demokratische System infrage gestellt wird.

STANDARD: Wann ist das in Straßburg aufgetaucht?

Brok: Mit Jean-Marie Le Pen und dem Front National.

STANDARD: Der Vater von Marine Le Pen, der kam 1984 erstmals ins EU-Parlament. Welche Rolle spielte die britische Unabhängigkeitspartei von Nigel Farage, der 1994 EU-Abgeordneter wurde?

Brok: Den hat man anfangs nicht sehr ernst genommen. Man muss ihn auch von den rechten Nationalisten abgrenzen. Farage ist eine andere Nummer, der hat die Europäische Union infrage gestellt, aber nicht die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit.

STANDARD: Es fällt offenbar schwer, deutlich zu machen, dass nationale und europäische Gesetzgebung zusammengehören, nicht gegeneinander stehen. Davon profitieren die Rechtspopulisten.

Brok: Das ist der entscheidende Punkt. Wir haben dafür beim Brexit unter Premierminister David Cameron 2016 bitter bezahlt. Die Regierungen erklären leider nicht, dass sie im gemeinsamen europäischen und im nationalen Interesse handeln. Sie erzählen zu Hause nie, woran sie auf EU-Ebene mitgewirkt haben. Es werden immer nur die Geschichten nachgebetet, dass die Brüsseler Bürokratie entscheide, sie nicht zugestimmt haben und so fort. Das ist das Kernübel.

"Die Regierungen erklären leider nicht, dass sie im gemeinsamen europäischen und im nationalen Interesse handeln", sagt Elmar Brok. Beim Brexit unter Premierminister David Cameron habe man dafür bezahlt.
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STANDARD: Hat das die Arbeit der Abgeordneten über die Jahre qualitativ verändert?

Brok: Sie wurden in den vergangenen Jahren zunehmend zu Spezialisten in den jeweiligen Fachausschüssen. Sie haben hohe Kompetenz in ihren Bereichen. Aber das bedeutet auch, dass es weniger Generalisten gibt, die die großen Linien sehen. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, dass wir zu wenige Generalisten haben, die das Gesamtbild der Union im Blick haben. Was das Verständnis der Bürger betrifft, da müssen wir bei den Gesetzgebungsverfahren transparenter werden. Das betrifft aber weniger das Parlament als den Rat, die Regierungen in den Ministerräten.

STANDARD: Kommen wir zu den EU-Wahlen. Es sieht ganz danach aus, als würden die Rechtspopulisten, die extrem Rechten große Erfolge erzielen, fürchten Sie das auch?

Brok: Ich würde mich nicht wundern, wenn die nicht viel größer werden als sie heute sind, mit Ausnahme von Italien. Sie werden in Frankreich nicht stärker, nicht in den Niederlanden, kaum in Deutschland.

STANDARD: Die AfD ist in Umfragen stark.

Brok: Bei 13 Prozent. Und? Man sollte nicht vergessen, dass wir bei EU-Wahlen schon mal die Republikaner hatten mit 12 Prozent. Nichts Neues. Wir müssen sie bekämpfen, müssen sie eingrenzen, aber sie werden diesmal nicht den Durchbruch haben. Italien ist ein Problem, die Lega ist stark, wegen eines totalen Versagens des politischen Systems. Aber das hat mit Europa wenig zu tun.

STANDARD: Was kann man tun gegen EU-Skeptiker und Rechtspopulisten?

Brok: Bessere Politik machen. Wir dürfen uns nicht an der AfD ausrichten, wir müssen unsere eigenen Leistungen zeigen, positiv darstellen, was wir in Europa zustande gebracht haben, konstruktiv sein. Wir reden viel zu viel über die AfD, über Le Pen. In dem Moment hat man schon verloren. Man spielt deren Themen. Wir müssen die wirklich wichtigen Themen ansprechen, Migration, Klimawandel, Sicherheit. Das kann kein Staat allein bewältigen. Da kommen die Leute dann schnell drauf, dass das nur gemeinsam geht in Europa.

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"Wir reden viel zu viel über die AfD, über Le Pen", sagt Elmar Brok im STANDARD-Interview.
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STANDARD: Hat der längstdienende EU-Abgeordnete manchmal Sorge, dass die EU scheitern könnte?

Brok: Natürlich ist die Gefahr eine Bruchs da. Aber das wird sich bei dieser EU-Wahl nicht zeigen. Es wird eine deutliche Mehrheit der proeuropäischen Parteien geben.

STANDARD: Abschließend noch zum Brexit, wie wird man das in ein paar Jahren einordnen?

Brok: Es ist eine Mischung aus dem old-fashioned Nationalismus mit der Vorstellung eines Global Britain, purem Populismus und mit einer Labour Party die glaubt, sie könne ohne EU in Großbritannien wieder den alten Sozialismus einführen. Der Schaden für Großbritannien ist groß, auch für uns. Ich gehe davon aus, dass das Vereinigte Königreich in zehn Jahren wieder einen EU-Beitrittsantrag stellen wird.

STANDARD: Wird es jetzt zu einem Kerneuropa kommen und einer Zone von Freihandelsländern rundherum?

Brok: Wir sollten jetzt an einer Lösung nach dem Modell Norwegen arbeiten, engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Nachbarländern, die nicht alle der EU beitreten können. Da kann Großbritannien rein, auch die Türkei, die Ukraine, das eine oder andere Land vom Balkan.

STANDARD: Was ist die wichtigste Lehre, die Sie in fast 40 Jahren als EU-Abgeordneter gezogen haben?

Brok: Dass man zu seinen Positionen steht und nicht trickst. Vertrauen ist in der Politik sehr wichtig. In einem multinationalen Parlament ist es überhaupt alles. Das heißt, man kann alles vertreten, aber man sollte nicht versuchen, die anderen auszutricksen. Dann soll man lieber einmal verlieren oder unpopuläre Dinge mittragen. Man muss Brücken bauen, die Interessen der anderen sehen und anerkennen, Kompromisse suchen. Wenn ich nur mein deutsches oder österreichisches Interesse im Auge habe, geht das schief. Hier in Straßburg und Brüssel finden Lernprozesse statt. Das ist mir oft aufgefallen. Manche sind skeptisch angekommen, sogar antieuropäisch. Aber dann hört man aufeinander, und mit der Zeit wandelt sich das Bild. Aber das alles Entscheidende im Europäischen Parlament ist, wenn die Partner sagen: ‚Der Typ hält sein Wort.‘ (Thomas Mayer, 5.3.2019)