Bild nicht mehr verfügbar.

Seit mehr als zwei Jahren steht Großbritannien wegen des für den 29. März 2019 angepeilten Austritts aus der Europäischen Union kopf.

Reuters/Melville

Drei Wochen vor dem geplanten Brexit steigt die Panik in der britischen Regierung. Dem zuständigen EU-Austrittsministerium zufolge werden von 161 EU-Vereinbarungen mit Drittstaaten im April höchstens 64 bilateral weitergelten. Besonders schlecht sieht die Bilanz des Außenhandelsministeriums DIT aus: Minister Liam Fox und sein Team haben sechs Handelsabkommen mit kleineren Gebieten abgeschlossen. Dabei hatte der Brexiteer Fox gern behauptet, sämtliche 40 bestehende EU-Verträge mit 71 Nationen würden am 30. März "eine Sekunde nach Mitternacht" in Kraft treten.

Der vereinbarte Austrittsvertrag sieht eine Übergangsfrist bis Ende 2020 vor, in der bis auf Großbritanniens Anwesenheit in Brüssel alles beim Alten bliebe. Das Unterhaus ließ Theresa Mays Paket schon vor Wochen durchfallen; und auch bei der für kommenden Dienstag geplanten neuerlichen Abstimmung ist keine Mehrheit in Sicht. Dann droht zum Monatsende der Chaos-Brexit ("no deal").

Am Freitag gab die Premierministerin zu verstehen, sie werde der EU die Schuld in die Schuhe schieben: "Jetzt ist der Moment zu handeln", appellierte sie an die anderen 27 Staats- und Regierungschefs. Außenminister Jeremy Hunt sekundierte pflichtbewusst: "Die EU hat Fehler gemacht."

Barnier mit neuem Vorschlag

Nun den schwarzen Peter zugeschoben zu bekommen – das will aber auch die EU vermeiden. Chefverhandler Michel Barnier trat daher Freitagabend mit einem neuen Vorschlag an London heran: Großbritannien solle das verbriefte Recht bekommen, nach der Übergangsphase einseitig aus der Zollunion mit Brüssel auszusteigen. Er geht damit auf eine der Hauptbeschwerden der Brexit-Befürworter ein, die an der bisherigen Abmachung Mays mit Brüssel vor allem den sogenannten "Backstop" kritisieren: Demnach müsste Nordirland die gleichen Regularien behalten wie die EU, sofern London keinen zusätzlichen Deal mit Brüssel zur Grenze mit der Republik Irland findet. Das würde bedeuten, dass zwischen Nordirland und dem restlichen Großbritannien dann Grenzkontrollen nötig werden, was in London viele als unannehmbar empfinden.

Allerdings ist fraglich, ob Barniers neuer Vorschlag an der Misere viel ändert – zumal er bisherigen Vorschlägen im Inhalt sehr ähnlich ist. Denn auch bei einem Ausstieg aus der Zollunion müsste London demnach sicherstellen, dass es keine harte Grenze zwischen Republik und Provinz gebe.

Angesichts der anhaltenden Unsicherheit empfinden schon jetzt viele Unternehmen Bitterkeit in Bezug auf die Regierung. Die meisten machen sich Sorgen über lange Verzögerungen an den Landesgrenzen. Die offiziellen Regierungsdaten sprechen eine deutliche Sprache. Bis Ende der Woche waren 43 internationale Vereinbarungen getroffen. In den kommenden drei Wochen sollen 21 weitere Verträge unterzeichnet werden.

Außerdem macht das Handelsministerium eine schlechte Figur bei abgeschlossenen Abkommen. Auf der Habenseite sind Verträge mit Chile, der Schweiz und Israel ebenso verbucht wie mit den Palästinensergebieten, den Färöer-Inseln und der Gemeinschaft südöstlicher Staaten Afrikas, ESA. Hingegen fehlen Giganten wie Korea, Kanada, Japan oder die USA.

Unter normalen Umständen müsste der Minister wohl seinen Hut nehmen. Fox aber ist nicht nur ein langjähriger politischer Verbündeter der Premierministerin: Als einziger der Troika von prominenten Brexiteers, die May im Juli 2016 ins Amt berief, gehört der 57-Jährige noch dem Kabinett an – David Davis (Austrittsamt) und Boris Johnson (Außenamt) traten zurück. Fox zu entlassen kann sich May nicht leisten.

Düstere Prognosen

Wie wenig Vertrauen der Brexit-Kurs der Regierung bei den eigenen Spitzenbeamten hervorruft, macht eine delikate Personalie deutlich: Das Austrittsministerium kündigte diese Woche die Ruhestandsversetzung seines 57-jährigen Amtsleiters, des Staatssekretärs Philip Rycroft, zum Monatsende an. Rycrofts Ministerium hat vergangenen Monat in einer Studie deutlich gemacht, welch verheerende Wirkung ein "no deal" für die britische Wirtschaft hätte: Über die kommenden 15 Jahre würde das Wachstum um bis zu neun Prozent geringer ausfallen als bei normalen politischen Verhältnissen.

Wie die Katastrophe noch abgewendet werden kann? May habe keine Reisepläne, hieß es am Freitag aus der Downing Street bezüglich Gerüchten aus Brüssel, sie plane für Sonntag einen Besuch bei EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Hingegen müssen sich wichtige Staats- und Regierungschefs auf dem Kontinent auf Bittanrufe aus London gefasst machen.

(Sebastian Borger aus London, 8.3.2019)