Regieren ist ein Rendezvous mit der Realität. Müsste jemand in diesen Tagen als Zeuge für dieses Bonmot auftreten, es könnte niemand anderer sein als Theresa Mary May. Die ehrenwerte Premierministerin Ihrer Majestät hat in der vergangenen Woche – britisch ausgedrückt – einiges an Missvergnügen, ja vielleicht sogar ein wenig Bitterkeit durchleben müssen. Vom Kontinent aus betrachtet dagegen ist sie die unglückliche Hauptdarstellerin in einem nachgerade pompösen politischen Desaster.

Ursache für die so unersprießliche Lage des Vereinigten Königreichs ist: Die Briten wollen aus der Europäischen Union austreten – zu ausschließlich ihren eigenen Bedingungen. Ihre politischen Eliten tun so, als hätten sie nach elendslangen Verhandlungen, einem von beiden Seiten unterschriebenen 585 Seiten starken Austrittsvertrag und einer "Politischen Erklärung" über das zukünftige Verhältnis der beiden Partner nach dem vollzogenen Brexit noch immer nicht begriffen, dass dies schlichtweg nicht möglich ist.

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Vom Kontinent aus betrachtet dagegen ist Theresa May die unglückliche Hauptdarstellerin in einem nachgerade pompösen politischen Desaster.
Foto: Reuters / Vincent Kessler

Trotzdem will die Premierministerin fast wie ein Roboter – ihre Landsleute nennen sie inzwischen despektierlich "Maybot" – "weiterverhandeln", wo nichts mehr zu verhandeln ist. Brüssel ist zwar bereit, kosmetische Konzessionen zu machen. "Aber das, was sie wollen, werden sie nicht bekommen. Der Backstop wird nicht fallen", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz schon Wochen vor dem eigentlichen Brexit-Endspurt in einer Runde mit dem STANDARD.

Backstop ist das Reizwort, auf das sich der Streit konzentriert. Es bedeutet: Für den Fall, dass Brüssel und London es in der Übergangsphase nach dem Brexit nicht schaffen, ein gemeinsames Handelsabkommen auf die Beine zu stellen, bleibt ganz Großbritannien mit allen Verpflichtungen in der Zollunion und Nordirland zusätzlich noch im EU-Binnenmarkt. Eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland soll so vermieden werden. Für Brüssel ist diese Ausfall-Lösung unverhandelbar. Für London schriebe sie den eigenen Status als "Vasallenstaat der EU", wie man dort gerne sagt, fort. Möglicherweise auf ewig.

Das britische Unterhaus hat deswegen schon am 15. Jänner mit 432 gegen 202 Abgeordneten gegen den Austrittsvertrag gestimmt. Vor dessen erneuter Vorlage am 12. März will May noch einmal alles versuchen, um mit symbolischen Interventionen in Brüssel und Straßburg Eindruck in Westminster zu schinden. Es sind noch knapp mehr als drei Wochen bis zum durch den Fristenlauf bedingten automatischen Austritt Großbritanniens aus der EU – mit oder ohne Vertrag – am 29. März um Mitternacht mitteleuropäischer Zeit.

Dienstag, 5. März

Der britische Außenminister Jeremy Hunt versucht, gut Wetter zu machen. Es gebe vernünftige Signale aus Brüssel, meint er und lässt wissen, dass die EU Großbritannien aus der "Backstop-Falle" lassen werde. Und er glaube auch an einen geordneten Austritt zum geplanten Termin am 29. März.

Der Autokonzern BMW teilt unterdessen am Rande des Genfer Autosalons mit, dass in München überlegt werde, einen Teil der Motorenproduktion und die gesamte Mini-Fertigung in andere Länder auszulagern. Auch Österreich wird genannt.

Dienstagabend schickt May ihren Chefjuristen, Generalanwalt Geoffrey Cox, und Brexit-Minister Stephen Barclay nach Brüssel, um über den Backstop zu verhandeln. Sie treffen bei einem Abendessen auf EU-Chefverhandler Michel Barnier. Danach heißt es, es sei ein "konstruktives Gespräch" gewesen – es ist die übliche diplomatische Floskel für keine Annäherung. Tags darauf soll weitergesprochen werden.

Mittwoch, 6. März

Im BBC-Radio spricht Woody Johnson, der US-Botschafter in London, den Cousins auf der Insel in schwierigen Zeiten Mut zu: Das Verhältnis zwischen den USA und Großbritannien sei wichtiger denn je und werde prosperieren, wenn der Brexit vollzogen sei. Als besonderes Zuckerl stellt er einen baldigen Besuch Präsident Trumps in Aussicht. Die Amerikaner sind auch am Aschermittwoch noch ausgesprochen lustig.

In Brüssel herrscht dagegen eher Katerstimmung: Diplomaten sehen nach neuen Gesprächen mit Cox und Barclay keinen "Durchbruch" vor dem Wochenende. Die Daily Mail meldet, May selbst könnte am Sonntag nach Brüssel reisen. Barnier informiert die Kommission bei deren wöchentlicher Sitzung über den Stillstand in der Sache. Cox erklärt daheim, es habe einen "robusten Austausch" über die unterschiedlichen Standpunkte gegeben.

Donnerstag, 7. März

Erstmals ist in London offiziell von einer Verschiebung des Brexits die Rede. Finanzminister Philip Hammond sagt: "Das Parlament wird dafür stimmen, die EU nicht ohne ein Abkommen zu verlassen." Die logische Konsequenz sei eine Verschiebung des Austrittsdatums.

Es werden auch Details bekannt, mit denen die Briten Brüssel überzeugen wollen, den Backstop zu entschärfen. Generalanwalt Cox soll die Einrichtung einer Schlichtungsstelle vorgeschlagen haben. Das soll verhindern, dass bei eventuellen Streitigkeiten zwischen beiden Seiten das oberste europäische Gericht, der EuGH, eingeschaltet werden muss. Die Aushöhlung der europäischen Judikative ist für die EU völlig inakzeptabel. "Sie bewegen sich einfach nicht. Sie sind nicht bereit, das zu tun, was getan werden muss", klagt ein britischer Spitzenbeamter dennoch.

Die Times schreibt an diesem Tag, dass die britischen Superreichen in Scharen das Land verlassen. Der Chemiemagnat und Brexit-Unterstützer Jim Ratcliffe, der reichste Mann des Vereinigten Königreichs, ziehe derzeit nach Monaco um. Das könnte den Fiskus vier Milliarden Pfund kosten. Noch vor einem halben Jahr hat Ratcliffe beteuert, in Großbritannien bleiben zu wollen.

Freitag, 8. März

Aus Irland lässt Ministerpräsident Leo Varadkar ausrichten, dass der Austrittsvertrag bereits ein Kompromiss mit den Briten sei. Die EU habe viel gegeben und wenig für ihr Entgegenkommen erhalten. Die Stimmung ist äußerst gereizt. May lässt ihre Sprecherin sagen, dass die Premierministerin keine Reiseplanungen für ein Wochenende in Brüssel mache. In der ostenglischen Hafenstadt Grimsby hält sie an diesem Tag eine Rede, in der sie die EU auffordert, sich doch einen letzten Stoß zu geben und das zu tun, was die britischen Abgeordneten überzeugen würde, dem Austrittsvertrag zuzustimmen.

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Michel Barnier griff sich in letzter Zeit öfter an den Kopf.
Foto: AP / Jean-Francois Badias

Spätestens zu diesem Zeitpunkt weiß May, dass sie keine Mehrheit bekommen wird. Das Spiel, wer den schwarzen Peter zugeschoben bekommt, ist munter im Gange. Michel Barnier kontert auf Twitter und bietet den Briten den einseitigen Ausstieg aus der Zollunion mit der EU an. Die Briten und Nordiren reagieren verschnupft. Dies sei ein alter Vorschlag. Und er würde nebenbei Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs abtrennen, denn es müssten Zollkontrollen in der Irischen See eingeführt werden.

Montag, 11. März

Über das Wochenende ist definitiv klar geworden, dass May auch bei der zweiten Abstimmung über ihren Austrittsvertrag keine Chance in Westminster haben wird. Ein europäischer Diplomat sagt im Gespräch mit dem STANDARD: "Das Brexit-Abkommen fällt wieder durch. Ein No-Deal-Brexit wird auch abgelehnt werden. Beim nächsten Europäischen Rat werden wir über eine Verschiebung entscheiden – entweder bis kurz vor der Europawahl oder bis Ende Juni und jedenfalls vor der Konstituierung des neuen EU-Parlaments. Das wäre meine Prognose. Mit einer Einschränkung: Die Briten sind völlig verrückt, es kann immer auch das genaue Gegenteil eintreten."

Wie dramatisch die Lage für London tatsächlich ist, illustriert eine Studie der Denkfabrik New Financial, die an diesem Montag präsentiert wird: Mehr als 275 Finanzfirmen zögen Vermögenswerte von insgesamt 1,2 Billionen Dollar aus Großbritannien ab. 5000 Beschäftigte würden umziehen oder an den neuen Standorten eingestellt, schreiben die Autoren. Diese Zahl werde in den kommenden Jahren weiter steigen. Die Umzugskosten wurden auf zusammen drei bis vier Mrd. Dollar beziffert.

Gegen Mittag wird bekannt, dass May in einem letzten Versuch, ein Kompromisspapier zusammenzubringen, zu Kommissionschef Jean-Claude Juncker ins Europäische Parlament nach Straßburg fliegen will. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt aus Berlin ausrichten, dass nun die britische Regierung am Zug sei und endlich liefern müsse.

Kurz vor Mitternacht erklären dann sowohl Juncker als auch May, dass ein "Durchbruch" erreicht worden sei: Beide Parteien wollen sich "rechtlich bindend" verpflichten, bis Ende 2020 Alternativlösungen zu einem Backstop zu finden. Zu diesem Zeitpunkt würde – laut Austrittsvertrag – auch die Übergangsfrist nach einem Brexit enden, innerhalb derer Großbritannien an EU-Recht gebunden wäre. "Hoffen wir, dass es genug für das britische Parlament sein wird", heißt es nun in Brüssel.

Dienstag, 12. März

D-Day: Es ist nicht genug, das Unvermeidliche geschieht. 391 Abgeordnete stimmen Dienstagabend gegen das Abkommen, 242 dafür. In Brüssel zeigt man sich enttäuscht darüber, dass May es wieder nicht geschafft hat, eine Mehrheit zu organisieren: "Wenn es eine Lösung für die derzeitige Blockade gibt, dann kann sie nur in London gefunden werden." Die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Austritts sei nun "deutlich" höher. Michel Barnier twittert das überall – nur nicht in London – Augenscheinliche: "Das Brexit-Problem kann nur in Großbritannien gelöst werden".

Reden für den Brexit: Auch in dieser Woche bekam die britische Premierministerin ihre Deal mit der Europäischen Union durch das Parlament.
Foto: ReutersHOC/JESSICA TAYLOR

Mittwoch, 13. März

Die Brexiteers stellen auf stur: Brexit-Minister Barclay sagt der BBC, es sei ein größeres Risiko, die EU nicht zu verlassen, als ohne ein Abkommen aus der Union auszutreten: "Es wäre katastrophal für unsere Demokratie, nicht aus der EU auszuscheiden." Die Briten kündigen an, im Fall eines No-Deal-Brexits keine neuen Zollkontrollen für Güter einzuführen, die über die Landgrenze von Irland nach Nordirland gelangen. EU-Güter, die in Nordirland blieben, sollten zeitweilig zollfrei sein. In Brüssel sagt Chefverhandler Barnier, die EU sei bereit für einen No-Deal-Brexit. An diesem Tag meldet sich auch der Verursacher der ganzen Malaise, David Cameron, zu Wort. Er hat 2016 als Premier das Brexit-Referendum angesetzt. Jetzt sagt er über den No Deal: "Das wäre eine Katastrophe für unser Land."

Mittwochabend gegen 20 Uhr beginnt die Abstimmung über genau einen solchen Crash-Austritt. Auch sie fällt relativ deutlich dagegen aus: 321 Unterhausabgeordnete wollen keinen No-Deal-Brexit, 278 wären dafür. EU-Chefunterhändler Barnier wertet das als "Signal der Vernunft".

Donnerstag, 14. März

Der irische Ministerpräsident Leo Varadkar ist zu Gast bei Donald Trump in Washington. Dieser sagt, ihn überrasche, wie schlecht die Brexit-Gespräche für die Briten ausgegangen seien. Theresa May hätte sich seine Verhandlungstipps zu Herzen nehmen sollen. Vielleicht ist es diese Häme, die dabei hilft, dass die Abstimmung für eine Verschiebung des Brexits deutlich ausfällt: 412 zu 202 Stimmen. Damit liegt der Ball wieder in Brüssel. Die Staats- und Regierungschefs müssen beim Rat in der kommenden Woche (21. und 22. März) entscheiden, wie lange sie verschieben wollen.

Absolute Deadline ist für die meisten Länder Ende Juni. Im Juli konstituiert sich das neue EU-Parlament. Reichte die Verlängerung darüber hinaus, dann müssten die Briten nachwählen und hätten auch Mitspracherecht bei der neuen Kommission, dem Führungsgremium einer Union, aus der sie nichts als austreten wollen.

Käme es so weit, müssten nicht nur die Briten, sondern auch die EU-27 "Mayday! Mayday! Mayday!" funken und politisch um Rettung rufen. (Christoph Prantner, 16.3.2019)