Ende Februar gab ich dem STANDARD ein Interview bezüglich der Frage, warum Mythen und Erfindungen im Kontext von Flucht und Migration geglaubt werden. Mehr als 1.500 Postings gab es zu diesem Artikel. Da in einem Interview Sachverhalte weniger präzis benannt werden können, soll der Hintergrund der Argumentation an dieser Stelle nochmals entwickelt werden.

Das zentrale Argument im Interview lautet: Diejenigen, die Mythen, Märchen oder Fakes in Bezug auf Migration und Flucht verbreiten oder glauben, tun dies nicht, weil sie dumm oder unaufgeklärt sind, sondern weil diese unzutreffenden Behauptungen innerhalb der Erzählungen durchaus einen (sozialen) Sinn für sie ergeben. Diese Erzählungen, die häufig auch die Gestalt von Ressentiments annehmen, ermöglichen eine Selbstpositionierung in der sozialen Hierarchie gegenwärtiger Gesellschaften, indem sie bestimmte Gruppen von Menschen abwerten und zur Unterordnung zwingen sollen und die eigene Bedeutung und soziale Position aufwerten.

Menschen von Menschen entfremden

Wichtig ist nun, dass diese Ressentiments im sozialen Gesamtkontext der gegenwärtigen marktförmig verfassten Gesellschaften verstanden werden. Dieser Gesellschaftstypus produziert Unsicherheiten und Ängste, die in der systemischen Krisenhaftigkeit und Komplexität warenförmiger und marktförmiger Vergesellschaftung begründet liegen. Das meint konkret, dass die sozialen Beziehungen, die Normen und Werte, die die Menschen als natürlich annehmen, der ökonomischen Logik entsprechen, der sie unterworfen sind. Dieser Sachverhalt wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung seit Anfang der 1990er-Jahre auch als Wohlstandschauvinismus charakterisiert.¹

Ressentiments und Behauptungen gegen Migranten und andere Minderheiten, auch wenn sie unschlüssig erscheinen, ergeben für die Einzelnen durchaus Sinn. Im Bild: ein islamophobes Graffito auf einer Moschee in Stuttgart.
Foto: APA/AFP/dpa/JAN-PHILIPP STROBEL

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die diesem Gesellschaftstypus zugrundeliegende Tendenz zur Hierarchisierung der Beziehungen zwischen den Menschen. Damit verbunden sind gesellschaftliche Anrufungen von sozialer Unterordnung und Anpassung. Den zahlreichen sozialen Beziehungen der kapitalistischen Produktionsweise ist eine ökonomisierte Logik eingeschrieben, die den Menschen vom Menschen entfremdet.

Hass ist keine Angst

Der Rassismus kanalisiert das Unbehagen und beinhaltet das Versprechen, die eigene Unterwerfung und Degradierung zu relativieren. Anders ist es fast nicht erklärbar, warum Migration und Flüchtlinge derart in den Mittelpunkt rücken angesichts der zahlreichen zentraleren Probleme, mit denen sich die Menschen herumschlagen müssen. Man muss also nicht über die "berechtigten Ängste der Menschen" schwadronieren, wie das zahlreiche Politikerinnen und Politiker unterschiedlicher Couleur in Österreich (und in Deutschland) immer wieder tun, weil die Ängste, die sie vorgeben zu haben, entweder gar nicht vorhanden beziehungsweise in dieser Form unberechtigt sind. Man muss vielmehr daran arbeiten, die Trägerinnen und Träger rassistischen Ideenguts vom Kopf auf die Füße stellen und sie mit der schmerzhaften Erkenntnis ihrer tatsächlichen Probleme konfrontieren.

In dieser Perspektive ist der kulturalistische Rassismus (ein Rassismus, in dem der Begriff "Kultur" den historisch erledigten Begriff der "Rasse" abgelöst hat) weniger eine Folge von Nichtwissen und Unaufgeklärtheit, sondern sozial funktional. Der Hass auf beziehungsweise die Abwertung von Menschen mit Abweichungen unterschiedlichster Art – zum Beispiel Sinti, Roma, Trans- und Homosexuelle, Obdachlose, Menschen mit Beeinträchtigungen et cetera – dient der Selbstermächtigung und hilft, auf das Aufbegehren gegen die eigene Unterordnung und Abwertung zu verzichten.

Rassismus ist stark in der Mittelschicht vertreten

Das erklärt auch, warum Hass und Ausgrenzung querbeet durch alle sozialen Schichten konstatiert werden können und der kulturalistische Rassismus in der sogenannten Mitte der Gesellschaft sehr stark vertreten ist. Insbesondere die Mittelklassen werden stets von sozialen Abstiegsängsten geplagt. Der Abbau des Sozialstaats und die Durchsetzung eines Marktradikalismus hat all denjenigen, die die langsame Abschaffung des Wohlfahrtsstaates hingenommen haben, sehr anschaulich vor Augen geführt, wie verletzlich ihre soziale Position ist. Zentral für die gegenwärtige gesellschaftliche Verfasstheit sind eine vielfach erfahrene Ohnmacht der Subjekte, die dominierende Logik des Sachzwangs und die steigende Komplexität von Problemen und Lösungsmöglichkeiten, mit der die Menschen allenthalben konfrontiert sind.

Der Rassismus kanalisiert die Abstiegsängste sowie die Ohnmachtsgefühle und hilft der Kompensierung der vorangegangenen Selbstunterwerfung. Zumindest in der Imagination kann auf diese Weise die eigene soziale Positionierung aufrechterhalten werden. Es geht dabei nicht darum, ob das tatsächlich zutrifft, sondern darum, dass der Rassismus auf diese Weise Handlungsfähigkeit vorgaukelt. Tatsächlich produziert der Rassismus nur eine scheinbare Handlungsfähigkeit, die die realen Probleme der Subjekte überhaupt nicht tangieren. Vor dem Hintergrund der Logik von Hierarchisierung und Unterordnung verspricht er aber offenbar einen hinreichenden Gewinn, wenn aktiv daran mitgewirkt werden kann, andere auf ihre hinteren Plätze zu verweisen. In der Forschung wird hier von einer "rebellierenden Selbstunterwerfung" (Nora Räthzel) oder "konformistischer Rebellion" (Erich Fromm) gesprochen.

Integration meint kulturelle und soziale Unterordnung

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die gebetsmühlenartig wiederholte Forderung nach Integration, die dem Nach-unten-Treten einen vermeintlich diskutablen politischen Anstrich verleiht. Die Forderung nach Integration bezeichnet aber in den wenigsten Fällen die Forderung nach Anerkennung von demokratischen Spielregeln oder die Maxime des Rechtsstaats, denn dieselben werden von den Fordernden häufig selbst nicht akzeptiert oder durch ihr Handeln ad absurdum geführt. Zahlreiche unter jenen, die "unsere" Frauen vor den angeblich zahlreichen und ihrer "Natur" entsprechenden Übergriffen von Flüchtlingen behaupten beschützen zu müssen, sind genau diejenigen, die gegen den "Genderwahn" polemisieren. Sie fürchten um ihre männlichen Privilegien. Diese Stimmen fanden Vergewaltigung in der Ehe bisher nicht der Rede oder der Verurteilung wert. Das Geschwätz vom "Genderwahn" trägt zudem zu jenen gesellschaftlichen Verhältnissen bei, die Österreich europaweit zur führenden Nation bei der Ermordung von Frauen gemacht hat.

Die Forderung nach Integration meint eben nicht die Anerkennung demokratischer Verfahren, sondern zuallererst die kulturelle und soziale Unterordnung sowie die Aufrechterhaltung eigener Privilegien – und dieselbe dementiert damit ihre vorgeblich demokratische Intention.

Wenn wir dem rassifizierenden Subjekt keine Dummheit unterstellen, sondern von einem rationalen Kalkül ausgehen, dann gibt es also gute Gründe, an die Ressentiments und Unwahrheiten zu glauben. Dies erklärt, warum es mit Aufklärung über Vorurteile oder mit Bildungsanstrengungen allein nicht getan ist. Wenn es nicht eine andere, solidarische Erzählung (im Interview habe ich von einem "Gegenmythos" gesprochen) gibt, werden die real begründbaren Ängste und Fantasien weiterhin in Pseudoängste transferiert und mittels Rassismus in Stellung gebracht. Es bedarf einer Gegenerzählung, die dem Marktradikalismus, Utilitarismus, Kosten-Nutzen-Denken, instrumenteller Vernunft, ökologischer Verantwortungslosigkeit und dem Effizienzdenken die Idee einer anderen, sozialen und solidarischen Welt gegenüberstellt und vor allem besagt: Eine andere Welt ist möglich. Es muss wieder attraktiv sein, sich für Demokratie, Solidarität, gleiche Rechte, ökologische Verantwortung und friedliches Miteinander einzusetzen.

"Willkommenskultur" ist noch vorhanden

Wie das gehen kann, zeigt uns in diesen Wochen die in den Schulen entstehende #FridaysforFuture-Bewegung. Die hier zum Ausdruck kommende Aufbruchsstimmung ist das geeignete Gegenmittel gegen identitäre Gefängnisse und völkischen Wahn. Sie ist geprägt von globalem Verantwortungsbewusstsein und das Gegenmodell der Verteidigung von Privilegien, die aus einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung resultieren. #FridaysforFuture steht für friedliches Miteinander, Verantwortung und Gerechtigkeit. Die sich auf "unsere Identität" und "unsere Kultur" berufenden Wortmeldungen befördern Gewaltfantasien, die auf ethnische Säuberungen zielen und in letzter Konsequenz Mord und Totschlag implizieren.

Schülerinnen und Schüler demonstrierten am 15. März weltweit, wie hier auf dem Heldenplatz, im Zuge der #FridaysForFuture-Proteste.
Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR

Zugleich gilt es daran zu erinnern, dass die "Willkommenskultur" von 2015 nicht einfach verschwunden ist, sondern nur durch die mediale Aufmerksamkeitsökonomie in den Hintergrund gedrängt wurde. Es gibt sie noch, diese tausenden Menschen, die solidarisch handeln und nicht wohlstandschauvinistisch für die eigenen Privilegien "rebellieren". Sie gilt es zu ermutigen und zu unterstützen. Diese "Willkommenskultur" begründete einen weiteren Gegenmythos und ist deshalb auch entsprechend denunziert und verspottet worden.

Es geht jetzt um drei Schritte, die konkret im Alltag unternommen werden können: Rassismus widersprechen, die tatsächlichen Probleme benennen sowie Gegenerzählungen verbreiten. Dazu kommt natürlich auch die Möglichkeiten, bei Wahlen (Arbeiterkammer, ÖH-Wahlen oder Europawahlen) dafür zu sorgen, dass den Repräsentanten der Hassprediger in den Gremien, in Parlamenten und in den Regierungen ihre Wirkmächtigkeit beschnitten wird. Und lesen Sie nicht die Kommentare zu solchen Beiträgen. (Klaus Schönberger, 21.3.2019)