Foto: imago/ZUMA Press/Joan Cros

Die großen Sprüche klopfen andere: Im Forschungszentrum des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist Zurückhaltung angesagt, wenn es um Prognosen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) geht. Während die Branche boomt und IT-Unternehmer wie Elon Musk und Ray Kurzweil sowie Technologie-Philosophen wie Nick Bostrom bereits von digitaler Neuzeit sprechen oder auch vor dem Aufkommen superintelligenter Maschinen warnen, wirkt die Direktorin des neuen KI-Forschungsarms MIT Quest for Intelligence ungleich geerdeter. "Wir sind gerade erst am Anfang", sagte Professorin Aude Oliva im Rahmen der MIT Europe Conference in Wien in einem Vortrag über den gegenwärtigen Forschungsstand. "Von künstlicher Intelligenz auf menschlichem Niveau sind wir noch Jahrzehnte entfernt."

Gleiches gelte für Unternehmungen, die auf die Verbindung von Gehirnen und Computersystemen abzielen. Unter anderem arbeiten die Firmen Neuralink und Kernel an Schnittstellen, die die menschliche Schaltzentrale mit KI verschmelzen lassen sollen. "Wir verstehen gerade erst einmal zwei bis drei Prozent des Gehirns", sagt die Neurowissenschafterin.

Laut Professorin Aude Oliva steht die Menschheit erst am Anfang dessen, was eines Tages als künstliche Intelligenz bezeichnet werden könnte.
Foto: DER STANDARD

Selbstlernend, aber nicht intelligent

Anstatt in Sci-Fi-Visionen zu schwelgen, müsse man sich zunächst vor Augen halten, wo die Forschung aktuell steht. Im Bereich der KI sei man gegenwärtig dabei, eingeschränktes Maschinenlernen auf mehrere gleichzeitige Anwendungen auszuweiten. Wenn man heute von KI spricht, ist damit nicht Intelligenz oder Kreativität im menschlichen Sinn gemeint, sondern Mustererkennung auf Basis riesiger Datenmengen und Prognosen auf Basis von Wahrscheinlichkeitsrechnungen.

So gelingt es, mit Computern Tumore in Röntgenbildern zu identifizieren, Sprachen zu übersetzen oder auch selbstlernende Algorithmen zum Go-Spielen zu trainieren. Intuition, Hausverstand, eine moralische Ebene, kognitive Flexibilität und letztendlich Bewusstsein bleiben für KI laut Oliva noch sehr lang außer Reichweite. Dazu müssten Menschen zunächst herausfinden, wie das Gehirn genau funktioniert und wie man intelligente Systeme bauen kann.

Einsatzfelder und Anwendungsbeispiele von KI-Systemen.
Foto: DER STANDARD

Endlos viele Ideen, kaum Fachkräfte

Dass heutige "KI" nicht wirklich intelligent ist, tut dem Run auf Ausbildungsplätze und den Milliardeninvestitionen in Machine-Learning-Anwendungen aber keinen Abbruch. Im Gegenteil: Heutige Entwicklungen zeigen, wie viel bereits mit eingeschränkten Lösungen erreicht werden kann. Die Erfolge selbstlernender Software in Bereichen wie Medizin, Mobilität oder Industrie hätten daher zu Recht einen regelrechten Branchenboom ausgelöst. Der Bedarf an Fachkräften sei aber weiter enorm: Weltweit gibt es MIT-Schätzungen zufolge erst rund 20.000 KI-Spezialisten. Während es an Ideen aus der Forschung nicht mangle, kämen Unternehmen aufgrund mangelnder Expertise kaum mit den Implementierungen nach.

Schon gehört? Edition Zukunft, der Podcast über das Leben und die Welt von morgen.

Es kann schnell gehen

Wie schnell die Entwicklung in spezifischen Bereichen voranschreitet, zeigt sich laut Oliva bei visuellen Erkennungssystemen. Während Algorithmen zur Bilderfassung trotz Millionen Vergleichsbildern gerade einmal einzelne Elemente klassifizieren können, sollen in rund fünf Jahren bereits Systeme verfügbar werden, die kausale Zusammenhänge und Intentionen erkennen. Ein Beispiel: Kann ein heutiges System einen Wanderer aufgrund der Bildgestaltung (blauer Himmel, grüner Berg et cetere) erkennen, soll es künftig möglich sein, anhand des Settings und der Dynamik den Ausgang einer Videoszene zu prognostizieren. Oliva veranschaulicht das mit der Aufnahme einer Talkshow, in der ein Gast anläuft und in die Arme des Moderators springt.

Video: Was selbst für Kleinkinder selbstverständlich ist, ist für KI heute noch unerreichbar.
johnnyk427

Moonshot Kleinkindintelligenz

Auf der anderen Seite verdeutlichen Oliva zufolge für Menschen ganz selbstverständliche Fähigkeiten, wie wenig die Wissenschaft gegenwärtig über Intelligenz weiß. Dazu zieht sie ein bekanntes Experiment des Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology heran, das zeigt, dass selbst zweijährige Kinder und sogar Schimpansen selbstlos handeln können. Im obigen Video ist gleich zu Beginn zu sehen, wie ein mit Büchern bepackter Mann wiederholt gegen eine verschlossene Schranktür stößt. Das zweijährige Kind, das den Mann beobachtet, reagiert innerhalb kürzester Zeit und kommt ihm zu Hilfe. "Wir haben keine Ahnung, wie das funktioniert", sagt Oliva. Und so groß die Bemühungen sind, Intelligenz zu rekonstruieren und kluge Computersysteme zu entwickeln: Aus Sicht der KI-Forscher müssen die kognitiven Fähigkeiten eines Kleinkinds heute noch als "Moonshot" bezeichnet werden. Noch jedenfalls. (Zsolt Wilhelm, 4.4.2019)