In Griechenland werden ständig neue Gräber für auf der Überfahrt ertrunkene Flüchtende benötigt. Wie "The Remains" zeigt, werden aber viele Tote nie aus dem Meer geborgen.

Dass das Mittelmeer ein Grab sei, ist oft zu hören (die Rede ist auch vom "größten Massengrab Europas"). Für Menschen, die nicht betroffen sind, sagt es sich leicht. An dieser Stelle enden die meisten Erzählungen über havarierte Boote. Man nennt Zahlen. Man zeigt Bilder von Leichensäcken. Derweil liegen in den Tiefen des Wassers noch immer Tausende Vermisste, deren Angehörige keine Ruhe finden bis ihre Körper nicht bestattet sind.

"Es gibt kein Grab im Meer!", ruft der Vater einer syrischen Familie in Nathalie Borgers' Dokumentarfilm The Remains einmal verzweifelt aus. Bei der Flucht hat er 13 Angehörige verloren, als das Boot zwischen Izmir und Samos kenterte. Seit zwei Jahren schon liegt das Schiff auf dem Meeresgrund. Weder der griechische noch der türkische Staat haben sich bisher um die Bergung der Leichen bemüht.

"Safe Passage" – für viele nicht eingetreten

The Remains – Nach der Odyssee, auf der Diagonale unlängst mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet, erzählt das wenig dokumentierte Nachwirken der humanitären Katastrophe. Auf Lesbos werden Mitarbeiterinnen der Küstenwache in die Bergung von Ertrunkenen geschult, andere Helfer kümmern sich um die Beisetzung der anonymen Toten auf einem Friedhof. Für drei Kinder, die ohne Namen bestattet, aber inzwischen identifiziert wurden, gibt ein Mann Grabtafeln in Auftrag. Immer wieder nimmt die Kamera das felsige Ufer der griechischen Insel in den Blick: zertrümmerte Schiffsteile, Gummistücke von Schlauchbooten, ein ramponiertes Handy, ein einzelner Schuh. Brauchbares wandert zurück in die Zirkulation der Hilfsorganisationen. Schwimmwesten, die sich zu enormen Bergen türmen und Schuppen verstopfen, werden zu Rucksäcken und kleinen Taschen für Ausweispapiere wiederverwertet. Der Stempel darauf sagt: "Safe Passage".

Thimfilm Filmverleih

Die Dokumentaristin Borgers stellt diesen leisen, fast gespensterhaften Bildern, in denen die Abwesenheit der Menschen in Rückständen, Spuren und abstrakten Platzhaltern wie etwa Protokollnummern spürbar wird, die erschütternde Geschichte der syrischen Familie an die Seite, deren Überlebenden bei dem Schiffsunglück getrennt wurden. Farzar, der in Wien endlich mit seinem Vater und seinen drei Schwestern vereint wird, nimmt über das Rote Kreuz die Suche nach den Vermissten auf.

Tragödie im Bürokratieablauf

Die Überführung der Tragödie in nüchterne Verwaltungsvorgänge steht dabei als Unverträglichkeit stets im Raum – "Genaue und detaillierte Erklärung der Umstände, die zum Kontaktverlust führten", heißt es auf einem Formular. Personenbeschreibungen reduzieren sich auf Angaben von Körpergrößen und besonderen Merkmalen: eine Kaiserschnittnarbe, ein Tattoo.

Der herrschenden Asylgesetzgebung ist das individuelle Schicksal herzlich egal. Vergeblich versucht Farzar seinen allein in Deutschland lebenden Bruder Imad nach Österreich zu holen. Dieser vermisst seit der Überfahrt seine beiden Söhne und seine schwangere Frau. Manchmal geht er zum Spielplatz und schaut den Kindern zu, seinen Schmerz macht das nur größer. Von irgendeiner Form von Alltag ist der schwer Traumatisierte weit entfernt.

Einmal zeigt der Vater der beiden Brüder eine prallgefüllte Tüte mit Medikamenten: Mittel gegen Kopf- und Magenschmerzen, Beruhigungsmittel, Schlaftabletten. Zum Psychiater will er nicht auch noch gehen. Nur noch die Toten bestatten. Auf bewegende Weise erkundet The Remains den von lähmender Stasis bestimmten Raum eines Dazwischen: nach der Odyssee, aber vor dem Weiterleben. (Esther Buss, 3.4.2019)