Ein Austausch kritischer Geister: Jean Ziegler (Mitte) im Gespräch mit Vertretern der Fridays-for-Future-Proteste. Von links: Schülerin Sofie Kranewitter sowie die Studierenden Johannes Stangl, Maximilian Fuchslueger und Katharina Schneider.

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Jean Ziegler: "Die Zivilgesellschaft ist die große Hoffnung."

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Wien – Jean Ziegler sitzt auf einer Holzbank im Wiener Rathauspark, flankiert von zwei jungen Frauen und zwei jungen Männern. Der Wind bläst dem Grüppchen um die Ohren, die Lauschenden beugen sich zu dem fast 85-Jährigen, um gut zu hören, was er sagt. Der Schweizer Intellektuelle ist ein paar Tage auf Wienbesuch. Er hielt eine Vorlesung zur Frage "Was ist so schlimm am Kapitalismus?" (dem Titel seines aktuellen Buches) und nahm die Otto-Bauer-Plakette für Verdienste im Kampf gegen Rechtsradikalismus und Faschismus entgegen, die der Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer verleiht.

Proteste überraschten Ziegler

"Was wollen wir tun? Stellen Sie die Fragen?", bricht Ziegler das Eis. In seinem aktuellen Buch sind es Fragen seiner vierjährigen Enkelin Zohra zum Kapitalismus, die Ziegler beantwortet. An diesem sonnigen Nachmittag wollen drei Studierende und eine 17-jährige Schülerin, allesamt Vertreter der Fridays-for-Future-Protestbewegung für Klimaschutz, von Ziegler wissen, wie sie weitermachen sollen. DER STANDARD und der ORF sind Zaungäste dieser Begegnung, die ein Bekannter Zieglers eingefädelt hat. Die internationale Klimaprotestbewegung junger Menschen findet Ziegler "überraschend und großartig".

Der 24-jährige Johannes Stangl will wissen, ob sie in den Augen des Soziologen und ehemaligen UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung mit ihren Forderungen an die Politik überhaupt die Richtigen anklagen. "Wir üben massive Kritik an den Regierungen der Welt, die ihren Versprechungen nicht nachkommen", sagt Stangl, blaues Hemd, zerzauster Schopf. Solle man sich mehr gegen Konzerne wenden?

Der Buchautor holt etwas aus. "Die größten transnationalen Konzerne haben eine Weltdiktatur errichtet, deren einzige Strategie die Gewinnmaximierung ist", sagt der Globalisierungsgegner und kommt dann auf das Pariser Klimaabkommen, das fast 200 Staaten unterzeichnet haben, zu sprechen. Die Regierungen hätten zugesagt, bis zum Jahr 2100 maximal 1,5 Grad Klimaerwärmung zuzulassen.

"Große Hoffnung Zivilgesellschaft"

"Wir wissen aber, wenn es so weitergeht wie jetzt, steigt die Temperatur um fünf bis sechs Grad. Das ist die totale Katastrophe. Daher ist so wichtig, was ihr macht. Ihr müsst ja überleben. Die Regierungen müssen die Allmacht der Konzerne brechen", führt Ziegler aus. "Die Zivilgesellschaft ist die große Hoffnung."

Zwischendurch zitiert der Schweizer Immanuel Kant, Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre und Che Guevara. Letztere beide kannte er persönlich. Mit Worten des kubanischen Comandante – "die stärksten Mauern fallen durch Risse" – will Ziegler den jungen Demonstranten Mut machen.

Seine linke Hand gestikuliert dabei, in der Rechten hält er sein neues Buch, das zu lesen er seinen Zuhörern ans Herz legt. "Ändere die Welt haben wir fast alle gelesen", sagt Physikstudent Stangl.

Ziegler klappt das rote Büchlein an einer der mehr als zwei Dutzend mit Büroklammern markierten Stellen auf und liest Worte des früheren deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) vor: "Niemand kann etwas gegen die Kräfte des Kapitalismus tun." Das sei ein Beispiel für "die totale Entfremdung" der Menschen. "Diese wird gebrochen durch euer Tun", sagt Ziegler. "Ich hoffe, dass ich auch noch das Ende des Kapitalismus erleben werde." Allerdings würden Privilegien nicht freiwillig aufgegeben. An eine unblutige Revolution glaubt Ziegler nicht.

Zukunft ungewiss

"Wir wissen nicht, wohin es geht", setzt Johannes Stangl das Gespräch fort. "Diese Klimagerechtigkeitsbewegung ist etwas Neues." Ziegler antwortet: "Was aus den Ruinen entsteht, wenn die Allmacht gebrochen ist, weiß kein Mensch."

Nach einer Dreiviertelstunde Gespräch ist noch Zeit für ein Selfie und eine Buchwidmung, dann muss der Autor zum Flughafen. Unter einer Platane des Rathausparks bleiben vier beeindruckte Menschen zurück. "Es hat unglaublich Mut gemacht, zu hören, wie dringend ist, was wir tun", sagt Stangl. "Allein die Bereitschaft, uns zu treffen, zeigt, wie viele Hoffnungen er in uns steckt", ergänzt der 19-jährige Maximilian Fuchslueger. Wenngleich man in einem Punkt klar nicht Zieglers Meinung ist: dass es nur blutig gehe. Für Freitag, fünf vor zwölf, ist auf dem Heldenplatz wieder ein Klimastreik geplant. Um 17 Uhr startet ein von 35 Initiativen unterstützter Demozug vom Westbahnhof. Friedlich. (Gudrun Springer, 5.4.2019)