Der Bus von Athen nach Marathon braucht etwa 75 Minuten, zumindest frühmorgens, bevor die Stadt richtig erwacht. Vor dem Fenster ziehen Bäckereien, kleine Geschäfte und verfallene, halbfertige Häuser vorbei, deren unglücklichen Besitzern mutmaßlich irgendwann das Geld ausgegangen ist. Im Hintergrund geht die Sonne auf, und immer wieder blitzt das blaue Meer hinter den weißgetünchten Wohnsiedlungen auf.

Einmal im Jahr ist diese Straße, die an der Westküste der Halbinsel Attika vorbeiführt, für den sonst üblichen Verkehr aus Bussen, Pkws und klapprigen Motorrädern gesperrt. Anfang November findet hier der Athen-Marathon statt. Er ist der größte Marathon Südeuropas: 2018 liefen knapp 15.000 Läufer die gesamte Distanz bis zur Ziellinie, dreimal so viele wie beim Vienna City Marathon. Und er hat noch eine weitere Besonderheit: Er ist quasi der Ursprung dieser Disziplin.

Die Originalstrecke von 42,195 Kilometern führt vom Dorf Marathon bis zum Panathinaiko-Stadion, dem Ort der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen. Und wer 75 Minuten mit dem Bus in die Gegenrichtung fährt, vorbei an den Bäckereien und den halbfertigen Häusern, der denkt sich schon einmal ein wenig nervös: 42,195 Kilometer sind lang. Verdammt lang.

Marathon-Ursprung: 490 v. Chr. lief ein Bote die 42,195 km, um vom Sieg über die Perser zu berichten. Heute feiert unser Autor nur den Sieg über sich selbst.
Foto: Jonas Vogt

Nike ist nicht nur eine Marke

Der Autor dieses Textes ist ein durchschnittlich sportlicher Mensch, der gerne zu Fuß geht. Normalerweise allerdings keine Marathondistanz und schon gar nicht an einem Tag. Heute ist das aber der Auftrag, dem in einem Moment des Leichtsinns ("Klar schaffe ich das!") zugestimmt wurde. Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass diese Entscheidung im Laufe des Tages durchaus noch bereut werden wird.

Es ist sieben Uhr morgens, und ich stehe in Marathon an einer Kreuzung vor der Statue der Siegesgöttin Nike, heute eher durch die Schuhmarke bekannt. Das Schild unter der Statue erinnert an die athenischen Soldaten, die "im Namen aller Griechen" gegen die persischen kämpften. Vier stattliche Hopliten, wie man die Speerkämpfer der griechischen Phalanx nennt, sind in voller Montur abgebildet. Wie so oft in touristischen Gegenden mit weit zurückreichender Tradition verschwimmen auch hier reale Geschichte, Mythos und ein Hauch von touristischem Einfallsreichtum. Die Statue der Nike wurde 2014 errichtet.

Touristische Folklore: Das Nike-Denkmal gedenkt der heroischen Kämpfe der Athener gegen die Perser. Errichtet wurde es 2014.
Foto: Jonas Vogt

Die Geschichte des ersten Marathons ist grundsätzlich bekannt, soll an dieser Stelle aber noch einmal erzählt werden. Im Jahr 490 v. Chr., zu Beginn der Perserkriege, ließ der persische Hochkönig Dareios I. eine Strafexpedition in der Bucht von Marathon landen. Die Athener besiegten das überlegene persische Heer. Die Geschichte der Schlacht wurde in der Folgezeit ausgeschmückt und aufgeladen. Unter anderem eben mit der Geschichte eines Botenläufers, die über die Jahrhunderte in unterschiedlichen Versionen erzählt wurde. In der heute bekannten Version rannte ein Bote namens Pheidippides nach der Schlacht von Marathon nach Athen, um die Siegesnachricht zu überbringen, und brach danach vor dem obersten Rat auf dem Felsen Areopag tot zusammen.

Bonjour tristesse

Diese Geschichte ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Legende, wenn auch eine ziemlich schöne. Und trotzdem ist es diese historisch wackelige Story über den Boten Pheidippides, der vor knapp 2500 Jahren sein Leben für das frühdemokratische Athen gab, die der Strecke heute ihre mythologische Bedeutung gibt. In der Realität ist die Straße von Marathon eine vierspurige Landstraße, die durch eine hügelige, schwach bewachsene Landschaft führt und irgendwann in die Ausläufer der Millionenstadt Athen übergeht. Anfangs ist die Strecke noch von Zypressen und Mohnblumen gesäumt, später zunehmend von Supermärkten und Autohäusern. Der Lauf des Pheidippides, dem in Marathon ebenfalls eine Statue gewidmet ist, mag heroisch gewesen sein. Einem Spaziergang auf seinen Spuren im Jahr 2019 haftet hingegen eher der Hauch von entspannter Tristesse an.

Die ersten Kilometer ab Marathon gehen gut. Es ist ein Tag im späten März, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Zwischen Marathon und der Grabstätte der gefallenen Athener, die im Süden des Dorfes liegt, gibt es einen Gehsteig und touristische Hinweisschilder. Auf der Straße überholen Überlandbusse todesmutige Motorradfahrer ohne Helm, während diese noch todesmutigere Radfahrer überholen.

Die ersten Kilometer gehen gut.
Foto: Jonas Vogt

Die Marathonstrecke führt nach ein paar Kilometern links zu besagter Grabstätte, einem Tumulus, was unromantisch betrachtet ein Erdhügel ist. Die Läufer – oder in diesem Fall: der Geher – umrunden die Grabstätte, in der die Asche der 192 Athener ruht, die in der Schlacht fielen. Das klingt wenig, man muss allerdings dazu sagen, dass diese Zahl nur die athenischen Vollbürger umfasst. Die Zahl der gefallenen Sklaven und Truppen des verbündeten Stadtstaates Plataiai ist nicht überliefert, weil sie nicht so wichtig waren. Einer der eher unangenehmen Aspekte, den man heute bei der Beschreibung der attischen Demokratie nicht so gerne erwähnt.

Die Straße verläuft auf den ersten etwa zehn Kilometern relativ gerade nach Süden. Schilder zeigen einem unentwegt, bei welchem Marathonkilometer man sich gerade befindet. Das ist genauso ein guter Service wie gleichsam unangenehme Erinnerung daran, was noch vor einem liegt. Immerhin strukturiert das die Strecke in 42 kleine, leicht zu bewältigende Einheiten.

Man geht – und Athen besteht

Im Leben wie im Sport gibt es mehrere Möglichkeiten, große Brocken mental anzugehen. Man kann sich eine größere Strecke oder andere sportliche Leistung zum Beispiel im Kopf in halbwegs überschaubare Einheiten unterteilen: Zum Zeitpunkt X möchte ich ein Drittel geschafft haben, zum Zeitpunkt Y die Hälfte und so weiter. Stete, kleine Erfolgserlebnisse halten einen bei der Stange, und vor Ort kann man das dann immer noch adaptieren. Ursprünglich war eine Pause nach etwa 14 Kilometern und eine nach etwa 28 Kilometern eingeplant. Letztlich habe ich überhaupt keine Pause gemacht. Hauptsächlich aus Angst, nach einer halben Stunde Sitzen nicht mehr hochzukommen.

42,195 Kilometer Wegstrecke am Stück zu gehen verlangt die Disziplin eines Pheidippides, und das auch noch ohne die Gewissheit, dass Athen ohne deinen Beitrag untergehen wird. Es ist ein Kampf gegen sich selbst, gegen den inneren Schweinehund. Und gegen das gelegentliche, eh nur für eine Zehntelsekunde aufblitzende Bedürfnis, in den Bus zu steigen und den journalistischen Abkürzer im Claas-Relotius-Gedächtnisexpress zu nehmen.

Der Schalter legt sich um

Es ist aber, auch wenn das komisch klingt, ein bisschen einfacher als befürchtet. Man kommt sehr schnell in einen Flow. Die Geräusche der Autos werden zu einem beruhigenden Hintergrundrauschen, Orte wie Nea Marki, Rafina und Pikermi und ihre weißgrauen Wände ziehen an einem vorbei, als würde man wieder im Bus von Marathon zurück sitzen, nur dass man selbst der Bus ist. Der Mensch ist, anders als andere Tiere, für die Langstrecke gebaut. Irgendwann legt sich ein Schalter um, die Beine werden zur Maschine und machen einfach weiter. Ab circa Kilometer 18 ist man mehr Bewegung als Mensch.

Es ist ein seltsames Gefühl von Vorankommen und gleichzeitiger Entschleunigung, das "den Kopf leer macht", wie die Oma gesagt hätte. Leer zu sein heißt nicht, dass man nicht denkt. Es beschreibt eher den Dämmerzustand kurz vor dem Einschlafen, wo man die Kontrolle über seine Gedanken verliert und diese sich im Kopf aufführen wie eine Armee auf Plünderungszug.

Auch bei Menschen, die normalerweise kontrolliert und standhaft bleiben wie 300 Spartaner bei den Thermopylen, beginnt das Gehirn verrücktzuspielen, wenn alle Energie in den Wadenmuskeln gebraucht wird. Wer also gerne einmal ausführlich an die eigenen vier Jahre zurückliegenden Fehler denken oder sich Fragen wie "Welcher Typ Bond-Bösewicht wäre ich eigentlich?" stellen möchte, sollte seine Turnschuhe schnüren und einfach einmal ein paar Stunden in eine Richtung gehen.

An der Schnellstraße: Busse überholen auf dem Weg nach Athen todesmutige Motorradfahrer, die noch todesmutigere Radfahrer überholen.
Foto: Jonas Vogt

Die Strecke von Marathon nach Athen führt im groben Bogen um das Naturschutzgebiet Dimosio Dasos Rapentosas und den Berg Pentelicus herum. Vor allem in der zweiten Hälfte der Strecke bestimmen die Siedlungen auf dem Hang die Landschaft rechts des Weges. Das ist auch der Grund, warum der Original-Marathon als eine der anspruchsvollsten Strecken der Welt gilt. Nicht nur weil er zahlreiche kleinere und größere Steigungen beinhaltet, sondern weil diese Steigungen etwa bei Kilometer 20 beginnen und ihren Höhepunkte bei Kilometer 30 erreichen. Also zu einem Zeitpunkt, wo man seine Beine schon recht stark spürt.

Es gibt noch ein weiteres Problem, das Teilnehmer des offiziellen Athen-Marathons nicht haben, Menschen, die diese Strecke im März gehen, allerdings schon: Außerhalb der Ortschaften gibt es kaum Gehsteige. Man ist gezwungen, den Straßenrand entlangzustapfen, zwischendurch über Leitplanken zu klettern und auch einmal in schwindelerregender Höhe über eine Mauer zu balancieren. Der Autor dieses Textes hat alle diese Information recherchiert, allerdings erst nachdem der Flug bereits gebucht war. Mitleid wäre also unangebracht.

Geschichte beflügelt

Etwa ab Kilometer 35 hat man das Gefühl, wirklich wieder in Athen zu sein. Die letzten sieben Kilometer führen an verschiedenen großen Krankenhäusern, Konzertvenues und Hotels vorbei. Es sind fast die härtesten. Psychisch, weil die eine Hälfte des Unterbewusstseins durch das nahe Ziel beflügelt wird, während die andere bereits den Ruhezustand vorbereitet. Physisch, weil stundenlanges Gehen irgendwann seinen Tribut zollt. Aber vor allem wegen der vielen Ampeln. Konstant in Bewegung zu bleiben ist einfacher als das Stop-and-go, bei dem die Beine bei jedem Anziehen brennen wie Feuer.

Niemand gratuliert, als Autor Jonas Vogt mit Blasen an den Füßen (und Olivenölseifen in der Tasche) ...
Foto: Jonas Vogt

Auf den letzten paar Hundert Metern zum Stadion führt der Weg über den breiten Vasileos-Konstandinou-Boulevard, vorbei an zahlreichen Straßenständen, Taxis und Cafés. Und nicht zuletzt den Einwohnern Athens. Diese gehen ihrem Tagwerk nach, nehmen keine Notiz von dem Mann in der blauen Regenjacke, der fertig durch den Feierabend der Großstadt stolpert und vermutlich ein bisschen leere Augen hat. In solchen Momenten ist man seine eigene, kleine, heroische Blase, die sich ihren Weg durch das Leben der anderen bahnt, immer das Ziel vor Augen.

Und dann ist es plötzlich vorbei. Man steht mit schmerzenden Füßen vor dem Panathinaiko-Stadion zwischen japanischen und deutschen Touristen, schaut ein bisschen verlegen herum und überlegt, ob das der richtige Moment für ein Finisher-Selfie sei. Im Hintergrund brummt der Feierabendverkehr. Niemand gratuliert, es ertönen keine Fanfaren. Der Moment könnte nicht unspektakulärer sein. Und trotzdem ist man ein bisschen stolz.

Bilanz des Tages: 43,195 zurückgelegte Kilometer (Marathondistanz plus einen zusätzlichen Kilometer zum Hotel), fünf große Blasen bekommen, drei Bananen gegessen, mehrere Olivenölseifen in einem Touristenshop gekauft. Es gibt zum Wandern ziemlich sicher schönere, interessantere und abwechslungsreichere Strecken, vermutlich sogar im Umkreis von Athen. Aber die Original-Marathonstrecke beflügelt durch ihre ruhmreiche Geschichte, als deren Teil man sich für einen ganz kurzen Moment fühlen kann. Egal ob sie so stattgefunden hat oder nicht.

... vor dem Panathinaiko-Stadion in Athen einlatscht.
Foto: Jonas Vogt

Und man liegt am Abend mit der Gewissheit im Bett, dass man mit ein wenig Selbstüberwindung auch als durchschnittlich sportlicher Mensch über sich hinauswachsen kann. Im besten Fall stirbt man am Ende sogar nicht einmal. Auch wenn das die Legende irgendwie besser machen würde – siehe Pheidippides. (Jonas Vogt, 7.4.2019)