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Die britische Premierministerin Theresa May begab sich am Mittwoch auf einen ihrer schwersten Wege. In Brüssel bat sie die EU-Partner um einen weiteren Aufschub.

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Nigel Farage trat als Wahlgespenst auf.

Foto: Reuters/Herman

Der vor mehr als vier Monaten von allen 28 EU-Partnern einstimmig ausgehandelte Brexit ist vorerst abgesagt. Einen Freitag, Mitternacht drohenden ungeordneten EU-Austritt Großbritanniens muss niemand mehr fürchten, und damit auch nicht wirtschaftliches Chaos.

Die Staats- und Regierungschefs aller 27 EU-Staaten außer Großbritannien haben sich darauf geeinigt, den Briten eine Verlängerung bis zum 31. Oktober zu gewähren. Im Juni soll allerdings überprüft werden, ob die Briten sich in der EU konstruktiv verhalten und nicht etwa EU-Entscheidungen zu blockieren.

1:57: Ratspräsident Donald Tusk verkündet die Einigung.

Theresa May nahm den Vorschlag rund eine Stunde später an. Sie war erst zurück zu den Staats- und Regierungschefs gerufen worden, nachdem diese sich untereinander geeinigt hatten. Ab sofort gilt damit in der EU und im Vereinigten Königreich: Alles Wahlkampf!

Starker Druck aus Frankreich

Die Briten müssten nun ja auch an den EU-Wahlen von 23. bis 26. Mai teilnehmen, wenn sie es nicht schaffen, vorher den Austrittsvertrag zu ratifizieren und vor der Konstituierung des EU-Parlaments auch formell auszutreten. Das war die ultimative Bedingung der Regierungschefs der EU-27 an Premierministerin Theresa May. Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron machte riesigen Druck, wollte zunächst keine Zugeständnisse akzeptieren, weil er befürchtet, die Briten könnten die Union 2019 lahmlegen.

May will versuchen, den Brexit trotz allem bis 22. Mai hinzukriegen, versprach sie im Vorfeld. Die Schlacht um die mehr als 40 Millionen britischen Wählerstimmen auf der Insel bzw. um 73 von insgesamt 751 EU-Mandaten in Straßburg hat bereits voll eingesetzt. Und dürfte brutal werden. Dieses paradox scheinende Phänomen bei einem Land, das die EU seit drei Jahren eigentlich verlassen will, ließ sich beobachten, noch bevor der Brexitsondergipfel in Brüssel begonnen hatte, um einen Ausweg aus der Blockade im Unterhaus in London zu besprechen. Das Wahlgespenst trat in Person von Nigel Farage auf.

Der EU-Abgeordnete (seit 1999), der einst die Unabhängigkeitspartei Ukip extra gegründet hatte, um den EU-Austritt zu initiieren, wanderte durchs Pressezentrum, um zwei zentrale Botschaften zu verkünden: May sei "eine einzige Versagerin". Sie habe sich den EU-Partnern unterworfen. Er hätte sich ein Veto von einem der EU-Chefs gewünscht, den harten Bruch mit der EU. Aber genau das wollten die EU-27 und May unbedingt vermeiden.

Daher gebe es nur eine Konsequenz, so Farage dem STANDARD: "Ich werde bei den EU-Wahlen antreten." Er werde Freitag die Gründung einer neuen "Brexit-Partei" verkünden, diese werde den Tories bei den EU-Wahlen einheizen. Eine gefährliche Drohung. Farage und die EU-Skeptiker bei den Tories wollen bei einem Verbleib in der Union mit den Rechtspopulisten voll auf Blockade setzen. Kämen die Tories bei der Vergabe von Abgeordnetensitzen unter die Räder, könnte ausgerechnet die Oppositionspartei Labour profitieren, mit dem May gerade den Kompromiss sucht.

Eine verzwickte taktische Lage, die auch alle Regierungschefs umtreibt, die in ihren Ländern Parteichefs sind. Nicht nur Labour, auch Europas Sozialdemokraten, die laut Prognosen Verluste erwarten, könnten wieder hoffen: Träten die Briten vor der Wahl aus, wäre das mit dem Verlust von 20 Labour-Abgeordneten in der Fraktion im Europaparlament verbunden.

Gewänne Labour dazu, könnte die Mehrheit der Christdemokraten in der Europäischen Volkspartei (EVP) in Straßburg gefährdet sein. Sie will mit Manfred Weber bei einem Wahlsieg den nächsten Kommissionspräsidenten stellen.

Das erklärt, warum viele der Regierungschefs die "flexible Verzögerung" des Brexits gemäß den Vorschlägen ihres Ratspräsidenten Donald Tusk nur unter strengen Auflagen zustimmen wollten.

Der Tusk-Plan

Wie berichtet, wollte Tusk May sogar bis maximal März 2020 Zeit geben, den Brexit geordnet durchzubringen. Macron erschien das viel zu lange, er drängte auf Ende 2019, was aber technisch schwierig werden könnte. Daher nun die Einigung der EU auf einen Mittelweg: Den 31. Oktober und den Juni.

In der vorbereiteten Gipfelerklärung wollten die EU-27 ihre Hoffnung festhalten, dass London den Austrittsvertrag schon früher ratifiziert. Gefordert wurden dabei harte Auflagen: Der Austrittsvertrag dürfe nicht mehr verändert werden, über das künftige Handelsverhältnis werde erst verhandelt, wenn UK ausgetreten sein wird. Und London muss sich verpflichten, sich in der EU weiter "konstruktiv und verantwortungsvoll" zu verhalten, egal ob es um das Bestimmen des künftigen Budgetrahmens gehe oder um Personalentscheidungen wie die Wahl des Kommissionschefs. Die EU-27 wollten sich auch vorbehalten, Ratssitzungen ohne Briten abzuhalten. Harte Vorgaben: Halten sie nicht, boykottiert Großbritannien die EU-Wahl, folgt der Rauswurf am 1. Juni. Automatisch. (Thomas Mayer aus Brüssel, 11.4.2019)