Das zukünftige Abstimmungsverhalten der einzelnen Kandidatinnen und Kandidaten, die im Mai ins Europaparlament gewählt werden, lässt sich nicht vorhersehen. Allerdings wissen wir viel über allgemeine Verhaltensmuster und Tendenzen in der Vergangenheit, die sich aller Voraussicht nach auch in Zukunft fortsetzen werden. Das Europäische Parlament ist eine der transparentesten Gesetzgebungsinstitutionen der Welt. Informationen zu den Tätigkeiten und zum Abstimmungsverhalten der Abgeordneten sind öffentlich zugänglich (was keine Selbstverständlichkeit ist) und wurden in unterschiedlichsten politikwissenschaftlichen Studien ausgewertet.

Gesetzgebungsprozess und Abstimmungsregeln

Im Gegensatz zum österreichischen Nationalrat ist das Europäische Parlament kein "Redeparlament", sondern ein sogenanntes "Arbeitsparlament", das Gesetzesvorlagen nicht nur diskutiert, sondern zum Teil auch stark verändert. Das bedeutet, dass den Plenardebatten nur eine untergeordnete Rolle zukommt, während die eigentliche Arbeit der Abgeordneten in den jeweiligen Fachausschüssen stattfindet. Anders als im österreichischen politischen System gibt es in der EU keine Regierungskoalition, die den parlamentarischen Prozess determiniert. Daher können sich je nach Gesetzesmaterie unterschiedliche Koalitionen bilden.

Zu jedem Gesetzesentwurf der EU-Kommission im Rahmen des sogenannten "Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens" wird aus den Reihen der Abgeordneten ein "Berichterstatter" ernannt. Berichterstatter haben die Aufgabe, den Kommissionsvorschlag gegebenenfalls abzuändern und einen Kompromiss vorzustellen, der nicht nur die notwendige Mehrheit im Europäischen Parlament, sondern auch im EU-Ministerrat findet – kein einfaches Unterfangen. Wenn die Diskussionen in den Ausschüssen abgeschlossen sind, kommt der modifizierte Entwurf zur Abstimmung ins Plenum, gemeinsam mit etwaigen weiteren Abänderungsanträgen von Abgeordneten.

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Abstimmung zur Urheberrechtsreform im EU-Parlament.
Foto: REUTERS/Vincent Kessler

Im Plenum gibt es im Wesentlichen drei verschiedene Abstimmungsformen: Abstimmung durch Handzeichen, elektronische Abstimmungen und namentliche Abstimmungen. In den meisten Fällen stimmen die Mitglieder durch Handzeichen ab, da dies der schnellste Weg ist, um die oft mehr als hundert Einzelabstimmungen zu Gesetzestexten, Änderungsanträgen und Entschließungen durchzuführen.

Wenn unklar ist, wo die Mehrheit liegt, wird eine elektronische Prüfung durchgeführt. Die Abgeordneten nutzen dazu die in ihren Tischen installierten Abstimmungsgeräte. Sie legen ihre Stimmkarte ein und drücken die entsprechende Taste, um eine Jastimme, eine Neinstimme oder eine Stimmenthaltung abzugeben. Die genaue Stimmenzahl wird dann im Plenum auf Bildschirmen angezeigt.

Das elektronische Abstimmungssystem wird auch für die dritte Abstimmungsart verwendet: die namentliche Abstimmung. Im Gegensatz zu elektronischen Abstimmungen, bei denen nur das Gesamtergebnis veröffentlicht wird, scheint bei namentlichen Abstimmungen das Verhalten der einzelnen Abgeordneten im Protokoll auf.

Bei namentlichen Abstimmungen können die Abgeordneten ihr Stimmverhalten nachträglich korrigieren lassen. Die Korrekturen scheinen im Protokoll auf, ändern aber nichts am Ergebnis der Abstimmung. Dies hat unlängst bei der Copyright-Novelle für Aufsehen gesorgt, da die Abstimmung über die Zulassung von Änderungsanträgen so knapp war, dass sie unter Berücksichtigung der Berichtigungen anders ausgefallen wäre. Allerdings sind nachträgliche Korrekturen nichts Außergewöhnliches – knappe Entscheidungen hingegen schon.

Abstimmungsergebnis bei der Urheberrechtsreform.

Die Daten aus den Abstimmungsprotokollen sind seit 1979 öffentlich zugänglich. Seit 2009 wird außerdem die finale Abstimmung über einen Gesetzestext immer namentlich durchgeführt. Welche Positionen die Abgeordneten vertreten, kann daher sehr genau nachvollzogen werden. Umfassende Datensätze sind verfügbar, und Plattformen wie votewatch.eu bieten ein grafisches Interface sowie Statistiken zu einzelnen Abgeordneten und Fraktionen.

Die zentrale Rolle der transnationalen Fraktionen

Die Analysen der Abstimmungsdaten zeigen vor allem eines: eine sehr hohe Fraktionsgeschlossenheit, speziell bei den traditionellen Fraktionen. So weisen die Europäische Volkspartei (EVP), die Sozialdemokraten (S&P), die Grünen und die liberale Alde-Fraktion alle einen Übereinstimmungsindex um beziehungsweise über 90 Prozent auf. Der langjährige ÖVP-Abgeordnete Othmar Karas hat beispielsweise in der letzten Gesetzgebungsperiode in 96 Prozent der Fälle mit der Mehrheit der EVP gestimmt und SPÖ-Listenzweite Evelyn Regner in 93 Prozent der Fälle mit der Fraktionslinie der S&P.

Das mag auf den ersten Blick nicht überraschen, kennt man starke Fraktionsdisziplin doch aus dem österreichischen Parlament. Bedenkt man jedoch, dass sich die Fraktionen im Europäischen Parlament aus den unterschiedlichsten nationalen Parteien zusammensetzen, deren ideologische Standpunkte und nationale Befindlichkeiten zum Teil weit auseinander liegen, ist die Tatsache, dass sie in Abstimmungen so geschlossen auftreten, einigermaßen überraschend.

Fraktionsgeschlossenheit im Europaparlament (2004–2018): Je näher der Index bei 1 liegt, desto größer ist die durchschnittliche Fraktionsgeschlossenheit in den Abstimmungen einer Gesetzgebungsperiode.
Foto: Mühlböck/Yordanova, Datenquelle: votewatch.eu

Vertrauen in Fachexperten

Die Politikwissenschaft hält dafür drei Erklärungsansätze parat: rationales Verhalten vonseiten der Abgeordneten, Sanktionsmöglichkeiten der Fraktionen und "vermutete Präferenzübereinstimmung". Fraktionsgeschlossenheit ist sinnvoll, da einzelne Abgeordnete (aber auch einzelne nationale Parteien) in einem Parlament mit derzeit insgesamt 751 Mitgliedern im Alleingang wenig ausrichten können. Innerhalb einer geschlossenen Fraktion sind einzelne Abgeordnete stärker, selbst wenn dies manchmal bedeutet, im Sinne der Fraktion und nicht ausschließlich nach den eigenen Interessen abzustimmen.

Klubzwang gibt es formal nicht und die Sanktionsmöglichkeiten der Fraktionen bei Abweichungen von der gemeinsamen Position sind zwar vorhanden, aber im Vergleich zu den Möglichkeiten nationaler Parteien stark begrenzt. Während die Fraktionen loyale Abgeordnete mit Posten innerhalb des Europäischen Parlaments "belohnen" können, entscheiden die nationalen Parteien über die Wiederaufstellung bei der nächsten Europawahl beziehungsweise mögliche nationale politische Ämter und verfügen dadurch über deutlich stärkere Vergütungs- und Sanktionsmöglichkeiten.

Die "vermutete Präferenzübereinstimmung" kommt aufgrund der Ausrichtung des Europäischen Parlaments als Arbeitsparlament zum Tragen. Die Abgeordneten müssen sich auf ihre eigene Arbeit in den Fachausschüssen konzentrieren und sind daher nicht in der Lage, alle anderen gleichzeitig laufenden Gesetzgebungsprozesse im Detail zu verfolgen. Daher verlassen sie sich auf die Experten in den anderen Ausschüssen, von denen sie annehmen, dass ihre Präferenzen am ehesten mit den eigenen übereinstimmen.

Diese gehören entweder der eigenen nationalen Partei oder der transnationalen Fraktion an – falls es unter den Abgeordneten der eigenen nationalen Partei keine Experten für das jeweilige Thema gibt (was bei 20 verschiedenen Ausschüssen und hoch spezialisierten Gesetzesmaterien häufig vorkommt). Dieses Vertrauen in die Fachexperten in den eigenen Reihen prägt die Zusammenarbeit innerhalb der Fraktionen und verleiht den jeweiligen Ausschussmitgliedern und vor allem den Berichterstattern besonderen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess.

Das EU-Parlament.
Foto: APA/AFP/FREDERICK FLORIN

Außenseiter EU-Skeptiker

Wenn Europaabgeordnete doch einmal gegen die Fraktionslinie stimmen, tun sie dies vorwiegend gemeinsam mit den anderen Abgeordneten ihrer nationalen Partei (und tendenziell häufiger kurz vor Wahlen). Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Abgeordneten "national" abstimmen, also dass alle Abgeordneten eines Landes dieselbe Position vertreten oder dass die Abgeordneten dieselbe Linie verfolgen wie der Minister des Landes im Rat.

Im Gegenteil: Nationale Abstimmungskohärenz ist zumeist einfach das Nebenprodukt eines umfassenden Konsenses über Fraktionen und Institutionen hinweg, der dadurch entsteht, dass auf EU-Ebene normalerweise so lange verhandelt wird, bis ein Kompromiss gefunden ist, mit dem alle wichtigen Akteure leben können. Dadurch formiert sich im Europäischen Parlament zumeist eine große Koalition aus EVP und S&P, die häufig auch die liberale Alde und teilweise die Grünen enthält.

Außenseiter in dieser Kompromisskultur sind vor allem die EU-skeptischen Fraktionen wie die ENF-Fraktion (Europa der Nationen und der Freiheit), der neben dem französischen Front National und der italienischen Lega Nord auch die FPÖ angehört, und die EFDD-Fraktion (Europa der Freiheit und der direkten Demokratie) rund um die UK Independence Party (Ukip) und die italienische Fünf-Sterne-Bewegung.

Abgeordnete aus diesen Fraktionen stimmen aber nicht nur häufig gegen die Mehrheitsposition im Europäischen Parlament, sondern zeigen insgesamt vergleichsweise selten eine einheitliche Fraktionslinie. Harald Vilimsky, FPÖ-Frontmann bei der Europawahl, hat beispielsweise nur in 57 Prozent der Fälle gemeinsam mit seiner Fraktion – an deren Gründung er maßgeblich beteiligt war – abgestimmt. Zieht man in Betracht, dass das ideologische Bindeglied dieser Fraktionen vor allem in ihrer Ablehnung gegenüber europäischer Integration begründet ist, ist dieses Abstimmungsverhalten aber nicht verwunderlich.

Ist Fraktionsdisziplin gut oder schlecht?

Die geringe interne Geschlossenheit der EU-skeptischen Fraktionen führt dazu, dass sie innerhalb des Europäischen Parlaments wenig Einfluss haben. Fraktionen, die keine einheitliche Linie verfolgen, tun sich schwer, verlässliche Koalitionen mit anderen Fraktionen einzugehen, und sind daher auch beim Schließen von Kompromissen außen vor. Aus Sicht der Fraktionen ist somit eine hohe Fraktionsdisziplin wünschenswert. Aber ist sie es auch aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger? Die politikwissenschaftliche Antwort ist – wie so häufig – "Jein".

Einerseits dient die Fraktionsgeschlossenheit insgesamt dem Einfluss der nationalen Vertreterinnen und Vertreter auf EU-Ebene und somit auch dem Einfluss der Bürgerinnen und Bürger, die von ihnen repräsentiert werden. Andererseits bedeutet es aber auch, dass Repräsentation ein Stück weit indirekter wird.

Während die Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl nationale Parteien und häufig aufgrund nationaler Beweggründe wählen, sind es im Europaparlament die transnationalen Fraktionen, die den Ton angeben und die Abstimmungen über Gesetzesvorhaben prägen. Aus demokratietheoretischer Sicht wäre es daher sinnvoll, wenn bei EU-Wahlen transnationale Parteibündnisse kandidieren würden. Die Etablierung europäischer Spitzenkandidatinnen und -kandidaten gibt den europäischen Parteifamilien zwar ein Gesicht, wählen können wir sie aber dennoch nicht. (Monika Mühlböck, Nikoleta Yordanova, 18.4.2019)