Sparen bei den Ärmsten, präventive Haft für Asylwerber, ein Stundenlohn von 1,50 Euro für Asylsuchende und die inhaltliche Nähe der Freiheitlichen zu den rechtsextremen Identitären: Das christlich-soziale Gewissen der Volkspartei wurde in den vergangenen Wochen auf die Probe gestellt. Offenen Widerspruch erntete Bundeskanzler Sebastian Kurz in den ersten eineinhalb Jahren seiner Regierung selten, das hat er seiner Gefolgschaft mittels Message-Control untersagt. Dennoch gibt es rund um die und in der Volkspartei immer mehr Stimmen, die seinen Kurs nicht mehr mittragen wollen.

Foto: Der Standard/Cremer

Es sind nicht nur die ehemaligen ÖVPler, sondern auch die aktiven schwarzen Bürgermeister, die die Werte der alten Volkspartei vermissen. Und der Rückhalt der Ortschefs ist entscheidend für den ÖVP-Obmann. Die schwarze Basis ist auf dem Land zu Hause, die ÖVP ist keine urbane Partei. Selbst von Wirtschaftstreibenden kommt Gegenwind, vor allem wegen der Abschiebung von Asylwerbern in Ausbildung. Druck kommt auch von Kirchenvertretern, sie haben den Glauben an das Christliche in der ÖVP verloren.

STANDARD

Aufsässige Altvordere, jähzornige Junge

Muamer Bećirović war bis vor kurzem Bezirksobmann der Jungen ÖVP in Rudolfsheim-Fünfhaus. Vom einstigen Geilomobil-Fahrer Sebastian Kurz hält der ambitionierte Konservative mit bosnischen Wurzeln jedoch nicht so viel. Er wirft dem Kanzler vor, eine Art innerparteiliches Ideenbrachland kultiviert zu haben, das – so will der 23-Jährige einschränkend sagen – seine Wurzeln bereits im Ende der Ära Wolfgang Schüssel habe. Man nehme das Thema Zuwanderung: "Anscheinend ist den Blauen dieses Feld überlassen worden", mutmaßt Bećirović. Das könne er verstehen, allerdings: "Absurd ist, dass es innerhalb der ÖVP hier keine Gegenstimmen gibt, keine Debatten. Es kann doch nicht sein, dass der Parlamentsklub nur als Abnickverein aktiv ist!" Doch Kurz lasse keine starken Leute in seinem Umfeld wachsen – ein Fehler, findet der junge Kritiker. Seine Schlussfolgerung: "Ich bin nicht sicher, ob die ÖVP Sebastian Kurz überleben wird, wenn es keine Leute gibt, die sich visionäre Gedanken über die Zukunft machen."

Scharfe Kritik an der "neuen ÖVP" übt Michael Ikrath. Zehn Jahre lang war er schwarzer Nationalratsabgeordneter, ehe er dem Parlament 2013 den Rücken kehrte. Die türkis-blaue Politik der Spaltung, Angstmache und Verunsicherung stößt ihm sauer auf, dass die gesellschaftspolitischen Ideen der Freiheitlichen an Dominanz gewinnen, ist für ihn erschreckend: "Die Positionen der Freiheitlichen sind widerwärtig und niederträchtig", sagt der Finanzreferent des Wirtschaftsbundes. Die Rolle seiner früheren Partei bereitet ihm zunehmend Sorgen: "Die Beitragstäterschaft der neuen Volkspartei ist bedrückend." Grenzt sich Kanzler Kurz nicht mehr von der rechten Politik des Regierungspartners ab, "wird die ÖVP zur Gefangenen der FPÖ". Kurz soll doch besser auf die Werte der alten ÖVP zurückgreifen.

Ähnlich sieht das Andrea Kdolsky: Sie ist seit 1978 Parteimitglied, das Auftreten und Selbstverständnis der türkisen Bewegung rund um Kurz sieht die frühere Gesundheitsministerin sehr skeptisch. "Es herrscht eine schwelende Grundaggression, jede Kritik wird als Majestätsbeleidigung aufgefasst", konstatiert sie. Der trauten Einigkeit der Koalitionäre misstraut sie. "Dieses unwirkliche Harmoniespielen entspricht nicht dem täglichen Leben", es wirke aufgesetzt, wenn keine eigene Meinung zugelassen werde. "Ein Minister hat keinen Vorgesetzten, der Kanzler ist nicht der Chef", erinnert sie.

Nicht nachvollziehbar ist für sie die soziale Kälte, mit der Türkis-Blau arbeite. Es würden Feindbilder erzeugt, und man mache sich eine aufgeheizte Stimmung zunutze. Als Kurz die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen mit einer Schlepperorganisation gleichsetzte, habe sie das als "Schlag ins Gesicht" empfunden. Überhaupt: "Diese Schuldzuweisungen sind besonders perfide", findet Kdolsky.

STANDARD

Leidenschaftliche Länder, oppositionelle Ortskaiser

Fast schon gewohnt renitent sind die Schwarzen in den Ländern, und da gilt die Devise: je weiter westlich, desto aufmüpfiger. Diesmal führt Vorarlberg die Phalanx der Widerständler an. Erstens, weil dort bald gewählt wird. Zweitens, weil im Ländle seit Wochen gegen die Abschiebung von Asylwerbern in Lehre demonstriert wird. Drittens, weil es dem Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) nach dem Mord am Sozialamtsleiter in Dornbirn und der darob von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) initiierten Debatte um eine proaktive Sicherungshaft samt Schuldzuweisung an die Behörden vor Ort gereicht hat. "Letztklassig" sei das, richtete Wallner dem Blauen im Innenministerium aus.

Auch beim Thema Lehrlinge positionieren sich die Vorarlberger ganz klar gegen die Linie der Bundes-ÖVP: Ein Bleiberecht wird gefordert, das sei auch im Sinne der Wirtschaft, die ohnehin um geeigneten Fachkräftenachwuchs ringe. Auch vom vom Kanzler unterstützten Vorschlag Kickls einer Kürzung des Stundenlohns für Asylwerber, die Hilfstätigkeiten übernehmen, hält Wallner wenig.

Im oberösterreichischen Vöcklabruck empört sich Bürgermeister Herbert Brunsteiner über die 1,50 Euro: "Das halte ich für schlimm und despektierlich", sagt er. Eine "Zumutung", die er nicht umzusetzen beabsichtige, "außer ich werde dazu gezwungen".

Auch in der Lehrlingsfrage hat der schwarze Ortschef eine andere Meinung als die Türkisen am Ballhausplatz: Die Abschiebungen seien menschlich ein Problem, eine Kulanzlösung täte auch der Wirtschaft gut. Ganz grundsätzlich hält Brunsteiner das Agieren seiner Kollegen für "ziemlich populistisch, das Christlich-Soziale in der Partei erkenne ich nicht mehr".

Monika Schwaiger, seit ein paar Tagen Seekirchener Bürgermeisterin im Ruhestand, kann mit den geplanten 1,50 Euro auch nicht mit. Die Abschiebung asylsuchender Lehrlinge sieht die Salzburgerin "kritisch", und die neue Mindestsicherung "fällt sicher beim Verfassungsgerichtshof", glaubt Frau Schwaiger. Trotzdem sei sie "mit Überzeugung bei einer christlich-sozialen Partei". Noch? "Punkt."

STANDARD

Unzufriedene Unternehmer

Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung, begrüßt zwar wirtschaftspolitische Maßnahmen der Koalition wie den Zwölfstundentag, doch die türkis-blaue Gesellschaftspolitik löst bei ihm Unbehagen aus. Die 1,50 Euro Stundenlohn für Asylwerber findet er "menschenverachtend". Nur wenige Menschen seien davon betroffen, in absoluten Beträgen sei die Ersparnis verschwindend gering: "Es ist reine Symbolpolitik, die viel mehr Zeichen einer politischen Haltung ist, als sie von finanzieller Sinnhaftigkeit getragen wird."

Seinen Unmut äußerte der Industriellenboss bereits Ende Jänner im Zuge der blauen Attacken auf Caritas und Co. Es sei die Aufgabe sozialer Organisationen, auf Missstände und sachpolitische Fehler hinzuweisen. Die Aufgabe der Industriellenvereinigung sei es, Regierungen zu kritisieren und Vorschläge zu Verbesserungen zu unterbreiten, erklärte Kapsch via Aussendung. Sein Vorschlag heute: weniger populistische Anlassgesetzgebung.

Gerhard Blum, noch bis Juli in der operativen Geschäftsführung des gleichnamigen international tätigen Beschlägeherstellers, versuchte es bei der Top-100-Gala der "Vorarlberger Nachrichten" vergangenen Monat mit charmanter Direktheit: "Bei der Steuerreform wäre der allergrößte Wunsch, dass wir die Arbeitnehmer entlasten", wandte er sich an den im Publikum anwesenden Kanzler. Es brauche die Eliminierung der kalten Progression, forderte Blum oben auf der Bühne. Und als Kurz sich mit Zwischenrufen zu verteidigen versuchte, quittierte Blum das mit Gelächter und der Feststellung, er selbst habe seine Sachen "nie in die Funktionsperiode des Nachfolgers gelegt".

Zusammenfassung Blums für das Publikum: "Selbstvertrauen hat er, ich weiß." Statt der Senkung der Körperschaftssteuer brauche es jedoch eine noch stärkere Lohnsteuersenkung, als geplant sei, findet Blum. "Weil ich glaube, für uns Unternehmer ist es ganz entscheidend, dass unsere Leute wieder das Gefühl haben: 'Wir sind auch was wert.'" Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssten wieder "näher zusammenrücken". Beim Thema Migration ließ Blum dem Kanzler rhetorisch keine Fluchtroute mehr offen: "Ich glaube, wir sind einer Meinung, dass ohne Zuwanderung, auch aus Ländern jenseits der EU, Österreich keine Zukunft hat. Sonst mutieren wir zu einem Staat von Greisen."

Georg Comploj ist bereits zweimal als Redner bei den Vorarlberger Sonntagsdemos aufgetreten. "Zuerst war ich der Meinung, man kann etwas erreichen", sagt der Geschäftsführer der Vorarlberger Holding Getzner, Mutter & Cie, jetzt wolle er nur noch Unmut zeigen, denn: "Jetzt sind wir stinksauer! Wir empfinden das als Missachtung der Unternehmer, die sich für Integration engagieren." In Wien stoße man mit dem Einsatz für Asylwerber in Lehre "auf Ignoranz, aber das ist eine Dummheit". Comploj erklärt sich das Verhalten der Bundes-Türkisen mit dem "starken Druck der FPÖ".

STANDARD

Grantige Gläubige

"Für christlich Motivierte ist die ÖVP absolut unwählbar geworden", glaubt Elisabeth Mayer. Mit dieser Überzeugung hat es die Präsidentin der Katholischen Aktion Salzburg vor kurzem immerhin ins Bundeskanzleramt geschafft. Dort hat sich der Regierungssprecher ihr Anliegen angehört, in Härtefällen zunächst auf Landesebene zu prüfen, ob gut integrierte Asylsuchende auch bei negativem Bescheid bleiben dürfen. Auch die Katholische Frauenbewegung, die zuletzt einen ziemlich gesalzenen Weihnachtsbrief an die Regierung aufgesetzt hatte, war mit dabei. Die Präsidentin der Vereinigung der Frauenorden erneuerte bei diesem Anlass ihre Kritik an der neuen Mindestsicherung. "Substanziell geändert hat sich nichts", bilanziert Elisabeth Mayer von der Katholischen Aktion zwei Monate danach. Im Gegenteil. Heute wertet sie das Treffen lediglich als Versuch, Druck herauszunehmen.

Im Ländle ist eine Reihe von Pfarrern gerade dabei, Druck auf die Regierung aufzubauen – in einigen Kirchen liegt jeden Sonntag eine Unterschriftenliste gegen das 1,50-Euro-Ansinnen des Innenministers auf. Denn: Das sei "zynisch", verletze die "Menschenwürde", sei eine "Missachtung jeden menschlichen Anstandes", kurz: "Es ist moderne Sklaverei." Vor kurzem hat sogar Kardinal Christoph Schönborn Bedenken an der neuen Mindestsicherung und der Asylpolitik der Regierung angemeldet: Eine kleine Gruppe von Menschen werde "systematisch in ein schiefes Licht gerückt", kritisierte der Wiener Erzbischof, und "das tut weh, weil es um elementare Menschenrechte geht". (Marie-Theres Egyed, Karin Riss, 18.4.2019)