"Wir können nicht einfach hinnehmen, dass die Verbrennungsmotoren immer mehr werden", sagt Soziologin und Raumplanerin Gerlind Weber. Politik und Raumplanung würden so tun, als gebe es keine Klimakrise.

Foto: Robert Newald

Immer mehr Menschen wollen oder müssen nach Wien – um hier zu leben oder zu arbeiten. In den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerung um rund 13 Prozent angewachsen, täglich pendeln 170.000 Menschen zur Arbeit nach Wien – das ist jeder und jede fünfte Beschäftigte in der Stadt. In Summe überqueren sogar 612.700 Menschen jeden Tag die Grenze zwischen Niederösterreich und Wien (Stand 2016). Das zeigt die "Kordonerhebung" des Landes Niederösterreich und der ÖBB. Mehr als drei Viertel davon kommen mit dem Auto.

Die Antworten auf den Druck von außen sind alt – und sie sind nicht besonders gut, wie die österreichische Raumplanerin und Soziologin Gerlind Weber meint. Denn mehr und breitere Straßen für Pendler erzeugen noch mehr Verkehr. Innerstädtische Verdichtung gefährde Nachhaltigkeit und Lebensqualität. Für Weber sind die Grenzen des Wachstums in Wien erreicht.

STANDARD: Wo liegen denn für Sie die Grenzen städtischen Wachstums?

Weber: Man nimmt es als gegeben hin, dass Wien wächst. Dabei müsste man fragen: Wie viel ist genug? Wohin will die Stadt wachsen? Es ist ein völlig kindisches Ziel, unbedingt die Zwei-Millionen-Grenze knacken zu wollen. Das kann ja kein Selbstzweck sein, wenn dabei die Lebensqualität auf der Strecke bleibt. Es ist auf Dauer nicht gut, dass so viele Menschen in die Stadt ziehen – weder für die Stadt noch für das Land.

STANDARD: Was wäre zu tun? Die Menschen wollen ja offenbar in die Stadt.

Weber: Die Frage ist etwa, wie Wien und Niederösterreich zusammenspielen. Man hat das Gefühl, es wird politisch an derselben Tuchent gezogen – aber am je anderen Ende. Und in der Stadt geht es derzeit nur ums Verdichten und Verpflastern. Es fehlt der Mumm, die Grundsatzfrage zu stellen, ob wir die Grenzen des Wachstums nicht erreicht haben. Was gemacht wird, ist Kraftlackelpolitik nach dem Motto: Je größer die Stadt, desto wichtiger ist man. Das ist nicht nachhaltig. Wir müssen weg von diesem Dogma des Wachstums – es ist eine zu teure Strategie, die die Lebensqualität vieler Menschen herabsetzt. Es ist meiner Meinung nach eine Grenze erreicht, wo das Gesamtwohl der Stadt in Gefahr ist.

STANDARD: Wie könnten Stadt und Land nachhaltig zusammenwirken?

Weber: Man muss zunächst anerkennen, dass wir den regionalen Ausgleich brauchen – dessen Basis ist der Ausgleich der Lebensverhältnisse. Die Stadt braucht einen funktionierenden ländlichen Raum, aus dem die Leute nicht wegziehen. Dort werden die Nahrungsmittel hergestellt, dort wird Klimaschutz betrieben und Artenvielfalt gepflegt. Es ist eine Überlebensfrage für die Zukunft, dass der Ausgleich zwischen Stadt und Land funktioniert. Aus heutiger Sicht war es eine massive Fehlentwicklung, dass sich die öffentliche Hand aus vielen ländlichen Regionen zurückgezogen hat und die Menschen das Gefühl der Nähe zu Entscheidern und Politik verloren haben. Man hat Zentralisierungspolitik betrieben, die man jetzt revidieren müsste.

STANDARD: Woran scheitert das Denken in langfristigen Perspektiven bei der Raumplanung und Politik? Ist es regionale Klientelpolitik, das Lugen auf die nächste Wahl? In Wien sieht man ja, dass eine Langfrist-Perspektive nachhaltig klug ist – nehmen wir den Wienerwald als geschützten Grünraum, die Donauinsel, den sozialen Wohnbau.

Weber: Es fehlt an Visionen, die Verantwortlichen setzen sich nicht mit der Zukunft auseinander. Selbst meine Berufskollegen, die Raumplaner, haben das meist nicht drauf. Man tat lange Zeit zum Beispiel so, als gebe es keine Klimakrise. Oder keine Demografie. Jetzt erst, wo die Städte aus allen Nähten platzen, setzt man sich langsam damit auseinander. Aber wenn Sie in eine Umlandgemeinde gehen, hören Sie: Wir müssen neue Gründe erschließen. Dann kommen die Häuslbauer, und jeder kriegt auf der grünen Wiese einen Baugrund und eine Straße zum Haus. Jeder kriegt das, was er in der Vergangenheit auch gekriegt hat. Dabei müsste man längst schauen, wie sich die Menschen autonom versorgen können, etwa was die Stromaufbringung betrifft.

STANDARD: Den Traum vom Haus im Grünen haben aber viele. Mit welchen Folgen?

Weber: Wenn jeder einen Garten will und mit dem Auto ins Einkaufszentrum außerhalb fährt, statt beim Bauern im Ort zu kaufen, ist Verödung die einzig logische Konsequenz. Wohnhausanlagen, Einkaufs- und Technologiezentren vor den Ortschaften töten die Frequenz im Inneren. Sie brauchen in den Zentren Kindergärten, Schulen, Ärzte. Dann sind die Menschen wieder gezwungen, Wege in die Orte zu machen, dann entsteht wieder Lebendigkeit. Und wenn in den Auslagen der Geschäfte Produkte liegen, kommt vielleicht sogar einmal jemand auf die Idee, etwas zu kaufen.

STANDARD: 76 Prozent der Menschen, die täglich nach Wien pendeln, nehmen dafür das Auto, in jedem Fahrzeug sitzen im Schnitt 1,6 Personen. Müssten Raumplanung und Politik nicht viel radikaler in Richtung Vermeidung von Autoverkehr wirken?

Weber: Natürlich müssten sie das. Wir können nicht einfach hinnehmen, dass die Verbrennungsmotoren immer mehr werden. Wir wissen ja, wohin uns das geführt hat und weiter führen wird. Raumplanung und Politik denken aber nicht in die Zukunft, sondern in der Gegenwart. Man betreibt eine Auffangplanung nach der Logik: Die Pendler werden mehr, also müssen wir die Infrastruktur ausbauen. Das ist ein sich selbst steigernder Kreislauf. Aber es ist keine Antwort auf die Fragen der Zukunft.

STANDARD: Dass mehr Straßen zu mehr Verkehr führen, ist lange bekannt und belegt. Aber wie lässt sich der Mobilitätswunsch der Menschen nachhaltig erfüllen?

Weber: Man müsste schauen, wie man die Arbeitsplätze näher zu den Menschen bringt, die die Arbeit derzeit in der Stadt suchen. Man hört immer wieder den Appell, dass irgendein nicht näher Definierter Arbeitsplätze schaffen solle – man weiß gar nicht, an wen sich dieser Appell eigentlich richtet. Die Arbeitsplätze schaffen immer noch die Menschen, und heute sind viele aufgrund hoher Bildung imstande, für sich oder andere einen Arbeitsplatz in ihrer Nähe zu schaffen. Das würde das Pendleraufkommen reduzieren. Unternehmen finden auf dem Land oft nicht die Fachkräfte, die sie brauchen. Sie denken nur ans Wachstum, haben aber auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Sie müssten mit Gemeinden zusammenarbeiten und den Leuten, die sie brauchen, mehr bieten: Startwohnungen, Coworking-Spaces, Betriebskindergärten, Schulen. Gute Luft und leere Ortszentren als Anreiz sind zu wenig.

STANDARD: Wie können Wege, die heute gefahren werden, noch vermieden werden?

Weber: Große Hoffnungen liegen auf der Digitalisierung. Mit dem Wohlstandsniveau und den neuen Technologien wachsen aber auch die Begehrlichkeiten – denken Sie an individuelle Paketzustellung. Das dämpft die Hoffnung auf die klimapositiven Folgen der Digitalisierung. Uns erwarten im Mobilitätsbereich in den nächsten Jahren enorme technische Umwälzungen. Wir sollten warten, was davon sich durchsetzt, und dafür gute Lösungen finden. Neue öffentliche Verkehrssysteme, E-Mobilität, Paketzustellung durch Drohnen, Seilbahnsysteme, wie sie im Bregenzerwald angedacht sind: Diese Entwicklungen sind umweltschonender als die aktuellen. (Lisa Mayr, 25.4.2019)