"Die wahren und wissenschaftlichen Prinzipien der Malerei werden ausschließlich vom Geist erfasst, ohne das Werk der Hand": Für Leonardo da Vinci war die Kunst untrennbar mit der Wissenschaft verbunden, das ist aus zahlreichen Zitaten überliefert. Mehr noch: Ohne eine genaue Beobachtung der Natur schien für das Renaissancegenie Malerei nicht denkbar. Genaueste Kenntnisse in der Optik, der Mathematik und ganz besonders in der Anatomie des Menschen bildeten nach seiner Überzeugung das unverzichtbare Fundament jeglichen künstlerischen Schaffens.

Umgekehrt war für Leonardo die Wissenschaft auch auf die Kunst angewiesen. Sie repräsentiere das Wesentliche in den Erscheinungen der Natur, wie er schreibt, und fasse in einem Bild zusammen, was der Forscher an vielen Beispielen in der Natur studiert habe und mit Worten nicht ausdrücken könne.

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Mehr als 13.000 Notizblätter hat Leonardo da Vinci hinterlassen, viele davon geradezu überladen mit wissenschaftlichen Zeichnungen. Anatomische Studien wie diese nehmen dabei einen breiten Raum ein.
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Vorreiter der Moderne

Viele Experten sehen in Leonardo da Vinci daher auch einen Vorreiter der modernen Wissenschaften, als ein Universalgenie der menschlichen Ideengeschichte, das lange vor Francis Bacon oder René Descartes erkenntnistheoretische Ansätze der modernen empirischen Wissenschaft formulierte, die ausschließlich auf Sinneserfahrung beruhen. Für da Vinci war die Welt um ihn herum ein Wunder und ganz sicher nicht deduktiv zu erfassen: Er verwarf damit die vorgegebenen theoretischen Überlegungen seiner Zeit, die sich großteils auf antike Autoren und die Bibel gründeten. Vielmehr ging er rein induktiv vor. Leonardo führte Beobachtungen durch und nahm sie als Ausgangspunkt für die Entwicklung eigener theoretischer Ideen.

Dass sich sein geradezu revolutionärer Zugang zur Interpretation der Natur so sehr von der seiner Zeitgenossen unterscheidet, könnte an seiner schulischen Bildung liegen – die im Grunde praktisch nicht vorhanden war: Als unehelichem Sohn einer 16-jährigen Magd und eines Notars im toskanischen Ort Vinci blieb Leonardo nach der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts üblichen Volksschullaufbahn der Zugang zu einer universitären Ausbildung versagt.

Launisch, unzuverlässig, unproduktiv

Im Alter von 17 Jahren kam Leonardo beim angesehenen Florentiner Maler und Bildhauer Andrea del Verrocchio als Lehrling unter, was den Beginn seiner Laufbahn als professioneller Künstler markierte. Beliebt war er freilich nicht bei seinen späteren Auftraggebern. Er galt als launisch, unzuverlässig und unproduktiv, was sich in seinem vergleichsweise kleinen malerischen OEuvre widerspiegelte.

Tatsächlich aber war Leonardo ein von Wissensdurst Getriebener. Den wenigen überlieferten Gemälden stehen mehr als 13.000 Blätter gegenüber, angefüllt mit wissenschaftlichen Zeichnungen, die ihn als außerordentlichen Architekten, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosophen ausweisen.

Darüber hinaus entwarf er unter anderem Waffen, Wasserpumpen und Fluggeräte, darunter Gleiter, die jenen der Gebrüder Wright vier Jahrhunderte später verblüffend gleichen, sowie einen Vorläufer heutiger Hubschrauber. Er zeichnete Landkarten und studierte die Bahnen der Planeten – es existierte kaum ein Gebiet, das Leonardo da Vinci nicht fasziniert hätte.

Leonardos berühmter Entwurf eines Hubschraubers.
Illustr.: imago images / United Archives

Dutzende Leichen seziert

Sein besonderes Interesse jedoch galt der Anatomie, die damals zwar durchaus zur Künstlerausbildung zählte, freilich jedoch nicht in dem extremen Ausmaß, das Leonardo betrieb: Er holte sich im Laufe der Zeit dutzende Leichen in seine Ateliers, um sie des Nachts zu sezieren und insbesondere die Funktionsweise von Herz und Gehirn zu entschlüsseln. Nicht alle seine Zeitgenossen waren davon angetan, wodurch er sich bei einigen den zweifelhaften Ruf eines Zauberers eingehandelt hat.

Worum es Leonardo da Vinci dabei letztlich ging, hat er uns in eigenen Worten überliefert: Sein Ziel war es nicht nur, den menschlichen Körper naturgetreu malen zu können, er wollte ihn – ganz im Sinne eines modernen Wissenschafters – verstehen: "Der Maler, der nur aus Praxis und nach dem Urteil des Auges, ohne die Hilfe der Vernunft abbildet, ist wie der Spiegel, der alle ihm entgegengesetzten Dinge nachahmt, ohne Kenntnis davon zu besitzen." (Thomas Bergmayr, 2.5.2019)