Wenn am 15. Juni die Regenbogen-Parade gegen die Fahrtrichtung über den Ring zieht, werden nicht nur die Errungenschaften der LGBTIQ-Community in Europa von Hunderttausenden gefeiert, es wird auch der Ursprünge dieser seit 50 Jahren erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Bewegung gedacht. Am Anfang stand nämlich ein Akt des Widerstands in einer kleinen Bar in der New Yorker Christopher Street in der Nacht des 28. Juni 1969. 

Gegen Demütigungen zur Wehr gesetzt

Es war eigentlich ein ganz normaler Abend im Stonewall Inn, außer vielleicht dass eine der Ikonen schwuler Männer, Transvestiten und Drag Queens, Judy Garland, an diesem Tag zu Grabe getragen worden war und deshalb bei manchen Trauerstimmung herrschte. Das Stonewall Inn war eine von der Mafia betriebene, heruntergekommene Bar, die eine Besonderheit hatte – sie war die einzige Bar in New York, in der schwule Männer tanzen durften. Auch wenn die Türsteher weiße schwule Männer bevorzugten, waren Latinos und Schwarze, Trans*Personen und Drag Queens, aber auch Lesben Gäste im Stonewall Inn.

Da die Betreiber keine Genehmigung zur Ausschank von Alkohol hatten, wurde die Bar als "Bottle Club" geführt. Die Gäste mussten sich ausweisen können und wurden als Club-Mitgliedern ausgegeben. Das funktionierte nur, weil die New Yorker Polizei regelmäßig geschmiert wurde, damit regelmäßig stattfindende Razzien vorab angekündigt wurden und sich Betreiber und Gäste einrichten konnten. So auch am 28. Juni gegen 1.20 Uhr nachts. Aber diesmal verlief der Abend anders als erwartet. Statt die bei solchen Razzien rituell durchgeführten Demütigungen durch die Polizei zu ertragen, setzten sich die Gäste zur Wehr. Die Stonewall Riots brachen aus, und wurden zum Initialerlebnis einer in den nächsten Jahren rasch wachsenden Bewegung.

Das Stonewall Inn in New York City.
Foto: AP Photo/Richard Drew,

Die "Gründungslegende"

Ab nun wird die Geschichte aber auch kompliziert und unübersichtlich. Die Literatur über diese Nacht und ihre Folgen füllt inzwischen Regale und nicht immer sind sich die Darstellungen und Erinnerungen deckungsgleich. Auch weil die Unruhen bald von unterschiedlichen Gruppen identitätspolitisch vereinnahmt wurden. Obwohl People of Color und Latinos, Drag Queens, Trans*Personen und lesbische Frauen einen maßgeblichen Anteil an den Riots hatten, gewann die Erzählung als Erfolgsgeschichte schwuler, weißer Männer rasch Oberhand. Erst spät fanden die nachweisbaren Fakten Eingang in die auch bald mythisch überhöhte "Gründungslegende".

Warum ein kleiner Trupp an Polizistinnen und Polizisten in dieser Nacht, ohne Vorwarnung eine Razzia durchführte, ist bis heute nicht restlos geklärt. Ein Teil der über 200 Gäste fügte sich jedenfalls nicht dem üblichen Procedere, sie verweigerten die Ausweisleistung oder wehrten sich gegen Demütigungen. Wer keine geschlechtergerechte Kleidung trug, musste sich auf der Toilette von Polizistinnen untersuchen lassen, um das Geschlecht festzustellen. Um der zunehmenden Unruhe Herr zu werden, beschlossen die Polizisten alle Gäste zu verhaften und forderten zusätzliche Arrestwagen an. Durch einen internen Kommunikationsfehler bei der Polizei ließen diese aber auf sich warten.

Vor dem Lokal sammelte sich inzwischen eine Menge, die Stimmung war aufgebracht, Rufe nach "Gay Power!" wurden hörbar, den auf Verstärkung wartenden Polizist*innen schlug immer größere Feindseligkeit entgegen. Als eine sich gegen ihre Verhaftung heftige wehrende, als "butch dyke" (männlich aussehende Lesbe) beschriebene Frau, deren Identität bis heute nicht geklärt ist, in Handschellen abgeführt wurde, kippte die Stimmung. Zuerst flogen nur Pennys, bald aber auch Bierflaschen, die Polizei flüchtete in die Bar und verbarrikadierte sich, bis Verstärkung eintraf.

Der Aufruhr war aber nicht mehr zu stoppen. Sechs Nächte lang lieferten bis zu 2.000 Demonstrierende der Polizei im Umfeld der Christopher Street Straßenschlachten, Papierkörbe wurden angezündet, Fenster eingeschlagen. Es war auch ein Aufstand der Unterprivilegierten. Street Kids, Stricher und vor allem die Latino- oder African American "Street Queens" wie Sylvia Rivera oder Marsha P. Johnson kämpften an vorderster Front mit ungleichen Mitteln – indem sie ihre Handtaschen zu Wurfgeschossen umfunktionierten – gegen die Polizeigewalt. 

Wir sind alle gleich.
Foto: REUTERS/Andrew Kelly

Lesben und Schwule wollten sich nicht mehr verstecken

Es gab in den USA auch schon vor Stonewall eine Lesben- und Schwulenbewegung (etwa die Mattachine Society und die Daughters of Bilits), doch agierten diese bis Mitte der 1960er-Jahre sehr zurückhaltend und ohne Aufsehen erregen zu wollen. Mit dieser braven, die gutbürgerliche Mehrheitsbevölkerung nicht verärgernden Strategie, war die Bewegung in den späten 1960er-Jahren aber auf verlorenem Posten. 1969 war nicht nur das Jahr von Woodstock und der sexuellen Befreiung in der Hippie-Bewegung. In den Jahren davor hatten unterschiedliche Protestgruppen aus der Zivilgesellschaft großen Zulauf erhalten: die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner, die Frauenbewegung, die Friedensbewegung, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierte.

Für eine Generation von Lesben und Schwulen, die sich nicht mehr verstecken wollten, brauchte es nur einen Funken, der übersprang, einen Kristallisationspunkt für ihre Forderungen nach Anerkennung und gleichen Rechten. Sie organisierten sich in nach Stonewall gegründeten, mitunter konkurrierenden Organisationen wie der "Gay Liberation Front" oder der "Gay Activists Alliance", in denen aber erneut weiße, schwule Männer den Ton angaben. Das Feuer war aber übergesprungen. Nicht nur in New York formierten sich zahlreiche Gruppen, in ganz Amerika organisierten sich Lesben und Schwule. Zum Jahrestag der Stonewall Riots fand am 28. Juni 1970 nicht nur in der Christopher Street in New York eine Demonstration statt, auch in Los Angeles und Chicago fanden erste Paraden statt. Der "Christopher Street Day" (CSD) war geboren.

Jedes Jahr feiern Hunderttausende die Pride in Wien.
Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Pride Month im Juni

Heute wird der CSD weltweit meist im Juni begangen, eben wegen den Stonewall Riots. In Wien findet in diesem Jahr von 1. bis 15. Juni die Europride statt. In New York hat man zum 50-Jahr-Jubiläum des Beginns der LGBT-Bewegung für den gesamten Juni die World Pride anberaumt. Sie soll zum bislang größten LGBTIQ-Event aller Zeiten werden.

Ungeachtet der Erfolge, die sich die heute weltweit vernetzte Community auf die Fahnen schreiben kann, sollte aber nicht vergessen werden, dass in vielen Staaten Homosexuelle nach wie vor verfolgt und getötet werden und viele CSD-Paraden nur unter Androhung staatlicher Repression durchgeführt werden können. Und in Österreich sind politische Kräfte am Werk, die die Errungenschaften der Gleichstellung und Antidiskriminierung nur zu gerne rückabwickeln würden. (Andreas Brunner, 15.5.2019)

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