Minus 276. So hoch – oder niedrig – war laut Statistik Austria der Wanderungssaldo Österreichs mit der Türkei im vergangenen Jahr. 3.549 Personen sind 2018 aus dem Mittelmeerstaat zugewandert, 3.825 Personen den umgekehrten Weg gegangen. Das Minus kommt für Demografen nicht überraschend; es hat sich bereits seit Beginn der 2000er-Jahre abgezeichnet, als die Zuwanderungszahlen bei leicht steigender Abwanderung zu sinken begannen.

Auch wenn die Entwicklung absehbar war, so stellt sie zumindest symbolisch eine Zäsur dar: Ein negativer Wanderungssaldo ist ein Novum, seit die Bundesregierung Klaus 1964 ein bilaterales Anwerbeabkommen mit der Türkei abgeschlossen hatte. Bei einer Arbeitslosenrate von nur zweieinhalb Prozent sollte der Vertrag helfen, dringend benötigte Arbeiter aus der Türkei nach Österreich zu lotsen.

Zwar war die Gastarbeiterrolle anfangs nur befristet vorgesehen. Doch schon viele aus der ersten Zuwanderergeneration sind geblieben. Österreich hatte auch wenig Grund, sie loszuwerden, verringerte sich die Arbeitslosigkeit doch trotz eines ähnlichen Abkommens mit Jugoslawien 1966 weiter. Die niedrigste Arbeitslosenquote der Zweiten Republik von 1,2 Prozent bedeutete in den frühen 1970ern de facto Vollbeschäftigung und dringenden Arbeitskräftebedarf.

Erst als die Arbeitslosenrate in den 1980ern wieder zu steigen begann und Mitte der 1990er unangenehme Höhen von mehr als sechs Prozent erreichte, erkannte die Politik, dass man eine mittlerweile sechsstellige Zahl an Türken mit Aufenthaltsbewilligung nicht einfach außer Landes bringen kann. Jörg Haider machte sich den Unmut der heimischen Bevölkerung über die vielen arbeitslosen Ausländer zunutze und erlangte mit der FPÖ bei der Nationalratswahl 1999 bis heute unübertroffene 26,9 Prozent.

"Wir schaffen es": Jörg Haider bei der Abschlusspressekonferenz zur Nationalratswahl 1999.
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Die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen bedeutete aber kein Abebben der türkischen Zuwanderung. Im Gegenteil. Die Kurve stieg wieder steiler an, und nie wurden mehr Türkinnen und Türken eingebürgert als in den 2000er-Jahren. Teils mehr als 10.000 von ihnen beantragten und erfüllten pro Jahr die Voraussetzungen für den Erwerb des österreichischen Passes.

So verzwanzigfachte sich zwischen 1991 und 2006 die Zahl der eingebürgerten Türken von rund 6.000 auf 120.000 Personen, und damit lebten erstmals mehr türkischstämmige Neo-Österreicher im Land als türkische Staatsbürger. Weitere zwölf Jahre später allerdings ist die summierte Kurve aus beiden Gruppen bei gut 250.000 Personen abgeflacht.

Auch der Messwert der Bewohner mit türkischem Migrationshintergrund stagniert in jüngerer Vergangenheit mit leicht rückläufiger Tendenz. Der Migrationshintergrund unterscheidet nicht nach Staatsbürgerschaft, sondern umfasst alle Einwohner, deren Eltern im Ausland zur Welt gekommen sind. Laut einer Hochrechnung der Mikrozensus-Erhebung von Statistik Austria traf das 2011 im Fall der Türkei noch auf 279.000 Personen zu, 2018 auf 269.000.

Doch nicht nur die türkische Zuwanderung scheint ein gutes halbes Jahrhundert nach dem Anwerbeübereinkommen zu einem Halt gekommen. Auch die bereits hier lebende Community trägt von sich aus zu keinem signifikanten Wachstum mehr bei – denn die hohe Geburtenrate der Türkinnen ist ein Phänomen der Vergangenheit.

Anfang der 1980er-Jahre betrug die Gesamtfertilitätsrate der in Österreich lebenden türkischen Staatsbürgerinnen noch durchschnittlich mehr als vier Kinder. Bis 2017 ist diese Rate auf 2,29 Kinder pro Frau gesunken. Damit ist nahezu der Wert von 2,1 erreicht, den Demografen als "Bestanderhaltungsnivau" bezeichnen – jede niedrigere Quote würde auf Dauer ein Schrumpfen des Bevölkerungsanteils bedeuten.

Diese Entwicklung deckt sich im Übrigen mit jener in der Türkei. Prognosen gehen dort bis 2050 von einem weiteren Rückgang auf 1,8 aus, weshalb sich sogar Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan desparat an die Bevölkerung wandte, mehr Kinder zu bekommen.

Der Rückgang der Zuwanderung von kinderreichen Familien und die sinkende Fertilitätsrate schlagen sich schließlich auch in der österreichischen Schulstatistik nieder. Der Anteil der zu Hause Türkisch sprechenden Schulanfänger hat 2010 nach längerem Zuwachs mit 6,75 Prozent seine Spitze erreicht. Im Schuljahr 2017 sprachen nur mehr 5,99 Prozent der Taferlklassler in türkischer Muttersprache. In absoluten Zahlen entspricht das einer Abnahme von rund 5.900 auf 5.600 Kinder.

Aber woran liegt der rückläufige Zuwanderungstrend? Darauf haben auch Migrationsexperten keine wirkliche Antwort. Der Soziologe Kenan Güngör, der als Mitglied des Expertenbeirats den jährlichen Integrationsbericht mitherausgibt, vermutet Auswirkungen schärferer Ausreiseregelungen, die sich zum einen auf den EU-Türkei-Deal am Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 und zum anderen auf den Putschversuch im Jahr 2016 zurückführen lassen. Auch striktere Einreisebedingungen in Europa, etwa der EU-weit eingeführte Nachweis von Sprachkenntnissen für nachziehende Ehepartner, könnten für den versiegenden Zufluss verantwortlich sein.

Europapolitische Ansätze, die Immigration aus der Türkei in größerem Kontext betrachten und also auch auf andere Länder als Österreich anwendbar sein müssten, haben nur eine Krux: Sie erklären nicht die Entwicklung im Hauptzielland. Denn in Deutschland, das mit einem Gastarbeiterabkommen in den 1960er-Jahren und der darauffolgenden Einwanderungshistorie deutliche Parallelen zu Österreich aufweist, ist kein Rückgang türkischer Zuwanderung zu beobachten. Dort wächst der Wanderungssaldo nach längerer Stagnation seit 2013 wieder.

Allerdings sei Österreich für türkische Migranten schon immer nur "am Weg nach Deutschland gelegen", sagt Güngör. Es könnte schlicht sein, dass sich diese "Nichtbeachtung" zuletzt verfestigt habe: dass die insgesamt langsamere Zuwanderung nach Europa nun noch stärker auf Deutschland fokussiert ist und "Nebenschauplätze" wie Österreich einfach auslässt. (Michael Matzenberger, 31.5.2019)