Priyanka Gandhi soll ihrem Bruder Rahul zum Wahlsieg verhelfen. Doch die Macht von Frauen in Indien ist beschränkt.

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Als Supreet Singh auf die Welt kam, weinte ihre Großmutter. Schon wieder ein Mädchen. Sie war das fünfte Mädchen in der Familie, erst nach ihr kam ein Bruder. Heute lacht sie darüber – und erzählt, dass ihr Vater seine Großmutter damals zurechtwies. Er arbeitete für die indische Armee, sie wuchs in Nordindien in Wohlstand und "sehr liberal" auf. Was Singhs Großmutter bei ihrer Geburt empfand, ist in Indien aber keine Seltenheit. Buben werden oft bevorzugt. Weil Mädchen zu oft abgetrieben werden, ist die Geschlechtsbestimmung vor der Geburt verboten. Das schlägt sich wiederum in der Demografie des Landes nieder: Bei den aktuellen Wahlen, die am 19. Mai zu Ende gehen werden, sind etwas weniger als die Hälfte der knapp eine Milliarde Wähler Frauen.

Singh sitzt im Lokalzug ins Zentrum von Mumbai. "Nur für Frauen" steht auf dem Schild über ihrem Kopf. Am späten Vormittag ist nicht viel los. Zur Rushhour, sagt sie, schaue es hier anders aus. Dicht an dicht stehen die Menschen dann. Vor allem im öffentlichen Verkehr werden Frauen regelmäßig Opfer sexueller Belästigung. Während in Delhi vor allem verbale Belästigung das Problem ist, wird in Mumbai viel gegrapscht, erzählt Singh. Die Frauenabteile in den indischen Zügen sollen Abhilfe schaffen.

Seit Jahren hängt Indien ein fragwürdiger Ruf an. Das Land sei für Frauen gefährlich, heißt es. Eine Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012 schockierte die ganze Welt. Sechs Männer überfielen eine Studentin im Bus. Später erlag sie ihren Verletzungen. "Das ist nur ein – besonders abscheuliches – Beispiel von so vielen", sagt Singh. Immer wieder machen ähnlich brutale Vergewaltigungen Schlagzeilen.

"Die Sicherheit von Frauen ist im Wahlkampf kein Thema", sagt die Journalistin Kalpana Sharma. Sie kritisiert die indischen Gesetzesmacher, die unter "Gewalt an Frauen" nur die öffentliche Gewalt verstehen. Nach dem Delhi-Gangrape wurden die Gesetze drastisch verschärft. "Das wird nichts ändern", meint die Journalistin, die schon viele Regierungen kommen und gehen sah. "Gewalt an Frauen ist in einer Mentalität verwurzelt, in Systemen, die sicherstellen, dass Frauen niedriger gestellt sind."

Vermeintlich starke Frauen

Sharma war schon Journalistin, als Indira Gandhi ab 1966 als erste Frau den riesigen Subkontinent regierte. Sie berichtete auch vor wenigen Jahren über Indiens erste weibliche Präsidentin, Pratibha Patil. Immer wieder schaffen es Frauen in Indien ganz an die Spitze des Staates. In Westbengalen bereitet "Didi" (Schwester) Mamata Banerjee mit ihrer regionalen Trinamool-Partei der BJP von Premier Narendra Modi Ärger. Aktuell tourte Priyanka Gandhi, die Schwester des Spitzenkandidaten der oppositionellen Traditionspartei Congress, Rahul Gandhi, durch Indien. Die Enkelin von Indira versucht, dem wenig charismatischen Bruder im Wahlkampf Aufwind zu verleihen.

Für Sharma täuschen diese vermeintlich starken Frauen über eine Realität der Ungleichheit hinweg. "Die erfolgreichen Frauen sind zumeist Teil eines Clans oder einer Dynastie. Ihr Vater, Onkel, Ehemann oder Bruder muss bereits in der Politik sein und ihr den Sitz überlassen." Die Männer würden entscheiden, welche Frauen stark werden. Laut der Association for Democratic Reform finden sich unter 6046 Kandidaten gerade einmal 527 Frauen. Versprechen an weibliche Wähler gebe es viele, so Sharma. "Aber am Ende ist das Interesse der Männer zu groß, um im Parlament den Platz zu räumen."

Hauptaufgabe Heirat

Frauen bleiben starr in dem gefangen, was Sharma "die unbewegliche Struktur der großen indischen Familie" nennt. "Sie mag vielleicht Dellen abbekommen, aber sie scheint sich nicht zu ändern." Frauen seien weiterhin primär für Haushalt und Familie zuständig. Nur eine winzige Oberschicht sei teils privilegierter als Frauen im Westen. Denn diese Oberschichtfrauen können sich auf die billige Arbeit armer indischer Frauen stützen. Für die große weibliche Mehrheit aber, sogar wenn sie gebildet ist und Jobs hat, sei die Hauptaufgabe immer noch: jung heiraten, und zwar einen Mann, der zu den Kasten-, Klassen- und Religionspräferenzen der Familie passt. "Die Frauen haben einen PhD, aber den Ehemann können sie nicht auswählen", so Sharma.

Supreet Singh hat das System durchbrochen. Sie ist geschieden und gehört damit zur Minderheit in dem Land mit der weltweit niedrigsten Scheidungsrate. Nach ihrem Studium arbeitete sie in London beim Konzern Kingfisher, wo sie die erste weibliche Managerin wurde. Dort wurde sie von ihrem Chef sexuell belästigt. Also verließ sie die Firma und ging zurück nach Indien. Nach dem Delhi-Gangrape beschloss sie, sich für die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum einzusetzen.

Denn die Unsicherheit in den Städten, so bestätigt auch Sharma, ist eines der Hindernisse für Frauen, die konservative Familienstrukturen durchbrechen wollen. "Wenn sie im Job sexuell belästigt werden, dann sagen die Familien: ,Komm zurück, es ist für dich unsicher, in der Stadt zu leben.'"

Belästigung online taggen

2012 gründete Singh die Crowdsourcing-Plattform Safecity. User können anonym Orte taggen, wo sie sexuell belästigt wurden, mit Angabe der Uhrzeit und einer Beschreibung des Vorfalls. "Frauen verschwinden von den öffentlichen Plätzen", so Singh. "Wir müssen die Plätze zurückerobern." 12.000 Berichte sind bisher bei Safecity eingegangen. Jeden Monat schickt die Organisation eine Zusammenfassung an die Polizei. "Weil viele Frauen die Vorfälle nicht melden, hat die Polizei nichts, womit sie arbeiten kann." Die örtlichen Sicherheitskräfte reagieren nun, indem sie Straßen besser ausleuchten und Polizeipatrouillen adaptieren. Auch mit den Bahngesellschaften arbeitet Safecity zusammen.

Im privaten Sektor kommt so Bewegung in die starren Strukturen: Singh hält heute etwa Workshops über sexuelle Belästigung in derselben Firma, in der sie einst belästigt wurde. In der Politik malen die Mühlen noch langsamer. Für Sharma ist klar, dass eine Quote her muss, auch auf nationaler Ebene, damit Politikerinnen in Zukunft Frauenpolitik machen können. (Anna Sawerthal, 10.5.2019)