STANDARD: Sie sind im Wahlkampf kreuz und quer durch Europa gefahren. Was bewegt die Menschen am meisten, was sind Ihre Eindrücke?

Timmermans: Ich reise seit Monaten, habe 19 Mitgliedstaaten besucht. Es gibt natürlich Unterschiede, sprachlich, politisch. Aber das Überraschende ist: Bei den Themen, den Inhalten gibt es sehr viele Übereinstimmungen.

STANDARD: Genau das haben uns die anderen EU-Spitzenkandidaten, ihre Gegner, von ihren Wahlreisen auch erzählt.

Timmermans: Das erste Thema, das immer und überall angesprochen wird, ist der Klimawandel. Das beschäftigt die Leute sehr, genauso wie die sozialen Themen. Das sind Fragen danach, wie es mit der Zukunft der Arbeit aussieht. Andere sagen, sie würden zwar arbeiten, aber nicht genug zum Leben verdienen. Das dritte Hauptthema ist Wohnen, das einzige Thema, das mich in dieser Intensität wirklich überrascht hat.

STANDARD: Inwiefern?

Timmermans: Die Menschen sagen einem sehr eindringlich: "Unsere Kinder können sich keine Wohnung leisten in unserer Stadt." Nicht nur in den Großstädten, auch in kleineren Städten. Ich wusste natürlich, dass es Wohnprobleme in meinem Land gibt oder in Deutschland, auch in Österreich. Wobei man sagen muss, dass das bei Ihnen etwas weniger stark ist, weil es in Österreich mit Sozialwohnungen, den geförderten Wohnungen, ein gutes Modell gibt. Aber es ist in den meisten Mitgliedstaaten ein Riesenthema.

STANDARD: Gibt es noch ein Aha-Erlebnis, das Sie hatten?

Timmermans: Es wurde die ganze Zeit davon geredet, dass die Migrationsfrage das Wichtigste sei, was die Leute beschäftigt. Das entspricht nicht meinen Erfahrungen bei diesen vielen Reisen. Natürlich ist es ein Thema, aber nicht das erste, was auf den Tisch kommt.

STANDARD: In allen Ländern?

Timmermans: Es gibt schon Unterschiede. In Österreich zum Beispiel ist weniger die Migration ein großes Thema als vielmehr die Integration von Flüchtlingen. Das hat mich überrascht. Wir sind an einem Punkt, wo wir als Europäer jetzt wirklich zusammenwachsen. Das war mein Eindruck.

Frans Timmermans, Spitzenkandidat der SPE.
Foto: APA/AFP/JOHN THYS

STANDARD: Ihr Mitbewerber von den Liberalen, Guy Verhofstadt, sagte, durch die meist geäußerten Sorgen der Menschen ziehe sich eines wie ein roter Faden: Verunsicherung. Wegen der Digitalisierung, des Jobs, ob man weiter sicher leben kann ...

Timmermans: Wenn ich es mit dem Wahlkampf von vor fünf Jahren vergleiche, dann gibt es einen zentralen Unterschied: Zum ersten Mal verbinden die Leute das alles unmittelbar mit Europa. Die Menschen wissen ganz genau – oder auch nur intuitiv –, dass das, was Europa macht, auf ihr Leben, auf ihren Job, die Sicherheit, auf ihre Wohnung einen großen Einfluss hat.

STANDARD: Und welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Timmermans: Die Leute drehen in Gesprächen den Spieß um und fragen uns Politiker: "Was macht Ihr denn für uns bei all diesen Themen?" Das ist für die Politisierung im gemeinsamen Europa von großer Bedeutung.

STANDARD: Handeln Europapolitiker also doch zu abgehoben, nicht lebensnah genug?

Timmermans: Ich sage Ihnen meine ganz persönlichen Erfahrungen in den letzten Monaten. Ich bin durch diese Reisen, durch die direkten Kontakte mit den Menschen viel, viel konkreter geworden. Das habe ich lernen müssen.

STANDARD: Wie hat Sie das verändert?

Timmermans: Ich habe so viel gelernt. Die Bürger wollen sehen, was deine Werte sind. Sie fragen sich, was ist das für ein Mensch, woran glaubt der? Wenn man das nicht vermitteln kann, dann hören sie nicht zu. Aber wenn man ihnen zuhört, dann geht es gleich sehr konkret los. Die Dringlichkeit der Sozialfrage ist unglaublich stark in den Vordergrund getreten. Es gibt stärker auch bei mittleren Schichten in der Gesellschaft das Gefühl, dass die Politik sich nicht um sie kümmert, sogar eine totale Abneigung gegen Politiker.

STANDARD: Den Rechtspopulisten werden starke Gewinne vorausgesagt.

Timmermans: Manche landen dann bei den extremen Nationalisten. Aber die allermeisten Leute sind nicht so. Die wollen wieder das Gefühl haben, dass sie mitmischen und dazugehören in der Gesellschaft. Sie wollen auch das Beste für die anderen Menschen. Mir hat der Wahlkampf diesbezüglich viel Hoffnung gemacht.

STANDARD: Gilt das für die jungen Wähler auch, rechnen Sie mit einer höheren Wahlbeteiligung?

Timmermans: Ja. Ich finde auch, wir müssten in ganz Europa etwas machen, was Österreich schon hat: ein Wahlalter von 16 Jahren. Ich habe das jetzt in meinem Land, den Niederlanden, schon aufgenommen und verbreitet. Greta Thunberg hat das vorgezeigt. Man kann Ideale haben, aber es ändert sich erst dann etwas, wenn es eine Mobilisierung gibt. Die jungen Leute heute sind viel mehr zu Opfern bereit als meine Generation.

STANDARD: Wenn man Sie im Wahlkampf beobachtet hat, fiel auf, dass Sie vor jungen Leuten sehr emotional aufgetreten sind, dass es sie innerlich fast "zerreißt". Warum?

Timmermans: Das stimmt auch. Ich habe große Sorgen wegen dieser Identitären Bewegungen in Europa, dieser extrem Rechten. Obwohl sie jetzt noch klein sind, könnten die Europa zerstören.

STANDARD: Die sich vor allem an die ganz Jungen wenden.

Timmermans: In den Niederlanden hat es einen solchen Kandidaten gegeben, der hat sich ganz klar gegen Frauenrechte geäußert. Auch gegen Abtreibung. Er stellt infrage, dass Frauen arbeiten gehen, teilt die Videos der Identitären und redet von einem Bevölkerungsaustausch. Dagegen unternimmt die Gesellschaft zu wenig, diese Gefahr wird nicht ausreichend gesehen – und das treibt mich an.

Im Wahlkampf versuchte er, ein Gefühl für die Nöte der Europäer zu bekommen.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

STANDARD: Was sollte man denn gegen die Rechten unternehmen?

Timmermans: Es genügt jedenfalls nicht, wenn man sie nur lautstark verurteilt. Wenn man eine Kneipe hat, dann bekommt man auch keine Kundschaft, indem man sagt "Die andere Kneipe nebenan ist schlecht". Nein, man muss dann werben und sagen, was man selber zu bieten hat.

STANDARD: Hatten Sie im Wahlkampf den Eindruck, dass die Rechtspopulisten den Durchmarsch in Europa machen könnten, wie viele voraussagen?

Timmermans: Nein. Wir sollten auch nicht den Fehler machen, die ständig großzureden und immer über sie klagen. Wir sollten vielmehr darüber reden, was wir selber in Europa machen wollen. Wir können am besten gegen den Rechtsextremismus kämpfen, indem wir bessere Ideen haben. Wir gewinnen diesen Kampf nicht, wenn wir ihn nur ideologisch führen. Wenn die mit ihren Ideen kommen und wir darauf nur sagen "Das ist falsch", "Das stinkt", "Das ist braun", dann funktioniert das so nicht.

STANDARD: Wie soll man ihnen denn begegnen?

Timmermans: Mich hat ein Journalist dieser Tage gefragt, ob das Faschismus ist, was die betreiben. Meine Antwort ist: Wenn wir diesen Begriff zu oft falsch, inflationär benutzen, dann verliert er jede Bedeutung. Ich habe das auch erlebt, als im Wahlkampf ein junger Mann zu mir sagte: "Wieso machen Sie das mit dem Bevölkerungsaustausch?"

STANDARD: Ein von den Identitären verbreiteter Begriff, eine Verschwörungstheorie.

Timmermans: Ich erklärte es ihm, dass es so etwas nicht gibt. Er insistierte trotzdem und sagte: "Natürlich gibt es das." Er sagte, dass er alle Menschen mit einer anderen Hautfarbe aus der Gesellschaft entfernen wolle. Es gibt bei manchen einen Punkt, wo es keinen Sinn macht, mit ihnen weiterzureden. Aber die meisten Menschen sind nicht so. Die Rechten werden bei den Wahlen da und dort Erfolge haben. Aber die entscheidende Frage für uns muss sein: Wann machen die politisch Pleite? Die werden die Bürger immer wieder enttäuschen, weil sie ihre Behauptungen nicht halten können. Schauen Sie, was mit der FPÖ in Österreich passiert ist. Irgendwann fallen die Masken.

STANDARD: Den Ibiza-Skandal der FPÖ haben Sie mitbekommen?

Timmermans: Natürlich. Dieser Heinz-Christian Strache mag bei manchen Leuten immer noch populär sein, aber die Maske ist ab. Ich habe das Sebastian Kurz einmal gesagt. Wir kennen uns ja von früher, wir waren beide Außenminister unserer Länder. Ich habe ihn gefragt: Bist du sicher, dass du die FPÖ unter Kontrolle kriegst? Bist du sicher, dass die Methode Schüssel noch funktioniert?

STANDARD: Wie beim früheren ÖVP-Bundeskanzler von Schwarz-Blau vor fast zwanzig Jahren ...

Timmermans: Die FPÖ hatte sich besser vorbereitet diesmal, auch medial. Die waren gut vernetzt, hatten überall Unterstützung. Ich habe nicht daran geglaubt, dass man die Rechtspopulisten zähmen kann, wenn man sie in die Regierung nimmt.

STANDARD: Was hat Kurz Ihnen damals gesagt?

Timmermans: Er hat geglaubt, er schafft das, hat gesagt: "Ich mach das." Er hatte dieses Selbstvertrauen.

STANDARD: Jetzt ist er gescheitert.

Timmermans: Ja. Das ist keine Überraschung. Ich hoffe, er sieht, dass sein Opportunismus auch gefährliche Seiten hat. Wenn man so opportunistisch wird, dass man sich von seinen eigenen Werten entfernt, was bleibt einem dann noch als Politiker? Die Schwelle bei den Konservativen zur Zusammenarbeit mit den Extremen wird immer niedriger. Kurz ist das Vorbild, auch bei vielen Leuten in Deutschland. Man hat das beim Streit von CDU und CSU um die Migration gesehen.

STANDARD: Glauben Sie, dass Kurz selbst schon rechts abgedriftet oder doch ein verlässlicher Europäer ist, aber mit den Rechtspopulisten spielt zu seinem Machterhalt?

Timmermans: Das ist so, wie wenn man mit dem Feuer spielt. Das kann auch einmal schiefgehen. Jetzt ist es schiefgegangen. Wir Sozialdemokraten sind anders. Für die Konservativen ist der Machterhalt wichtiger als alles sonst. Seit Schüssel gibt es diesen Gedanken, man könne Rechtspopulisten zähmen. Aber das geht nicht. Und ich hoffe, Sebastian Kurz verliert sich jetzt nicht in seinem Opportunismus.

STANDARD: Auf EU-Ebene läuft ein großes Match zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten. Die große Koalition verliert im Europäischen Parlament die Mehrheit, die Rechtspopulisten könnten davon profitieren. Wie sehen Sie das?

Timmermans: Ich glaube, wir sollten dazu stehen, dass wir nur mit demokratischen Parteien zusammenarbeiten. Wir müssen uns aber auch daran gewöhnen, dass es neue politische Bewegungen gibt, die von uns klassischen Parteien inhaltlich gar nicht so weit entfernt, aber sehr stark geworden sind. In den Niederlanden sind das zum Beispiel die Grünen. Ich wäre sehr froh, wenn wir Sozialdemokraten in den Niederlanden mit den Grünen zusammen eine neue Bewegung schaffen könnten. Und ich denke auch, dass es bei den jungen Leuten Ansätze gibt zu einer ganz neuen progressiven Generation. Es ist eine schwierige Lage, aber wenn wir uns an neue Entwicklungen nicht anpassen, dann werden wir überflüssig.

STANDARD: Ist die Zeit der großen Volksparteien vorbei?

Timmermans: Wir können nicht mehr damit rechnen, dass wir wie selbstverständlich die bestimmenden Parteien sind. Wir müssen bei jeder Wahl immer und immer wieder überzeugen. Schauen Sie auf meine Partei, die PvdA. Wir haben regiert, wir sind bestraft worden, auf fünf Prozent Wähleranteil gefallen. Aber warten wir ab, Vertrauen kann auch wiederaufgebaut werden.

STANDARD: Sie wirken erstaunlich optimistisch. Worauf fußt das?

Timmermans: Ja, das bin ich auch. Schauen Sie einmal, was hier in diesem Land, in Spanien, los ist. Wenn man die Menschen mobilisiert, über Werte, über Frauenrechte, über soziale Gerechtigkeit, über Nachhaltigkeit spricht, dann kann man daraus ein Programm machen und Erfolg haben. Wir müssen uns als Sozialdemokraten programmatisch auf dieser Grundlage erneuern, aber auch in den Formen, wie wir Politik vermitteln.

STANDARD: Die alten Zöpfe abschneiden?

Timmermans: Ich nehme mir meine eigenen Kinder als Vorbild. Die sind sehr idealistisch, aber ich brauche denen nicht mit Ideologie zu kommen. Das funktioniert nicht mehr. Sie haben keinen Ideologiebegriff mehr.

STANDARD: Die sind eben auch in einer etwas komplexeren Welt groß geworden. Einfache Muster funktionieren nicht mehr in Europa?

Timmermans: Genau. Ich kann Ihnen das an einem ganz konkreten Beispiel erläutern, was gerade läuft. Es ist uns im Frühjahr gelungen, eine EU-Regelung zu verabschieden, die Einwegplastik zurückdrängen soll. Das hat nur acht Monate gedauert, Weltrekord, so schnell. Ein Riesenproblem. Warum haben wir das so schnell machen können? Weil die Öffentlichkeit danach fragt und drängt, weil das ein konkretes Problem ist, das lebensbedrohend ist und es konkrete Lösungen gibt.

STANDARD: Bei der Schlussabstimmung im Europäischen Parlament haben klassische Parteimuster keine Rolle gespielt, die Zustimmung war fraktionsübergreifend.

Timmermans: Genau darum geht es. Diese Mehrheit ist gebildet worden, weil es "National Geographic" gab, es David Attenborough gab, die Zeitungen, die auf diese Probleme hingewiesen haben, die NGOs ...

STANDARD: Ist das die Zukunft des Regierens?

Timmermans: Auf dieser Basis kann man auf Basis von Idealen, nicht mehr von Ideologien, die Gesellschaft aufs Neue aufbauen.

STANDARD: Sie wollen Kommissionspräsident werden: Wie, mit welcher Mehrheit?

Timmermans: Ja, und zwar genau so, wie ich das anhand dieses Beispiels geschildert habe: In einem offenen Prozess. Wir müssen das dann auch bei der künftigen Arbeit der Kommission in diesem Sinn betrachten.

STANDARD: Aber mit welcher Mehrheit? Die Sozialdemokraten werden nicht auf Platz eins kommen, ohne Christdemokraten wird sich eine Mehrheit in Straßburg kaum ausgehen.

Timmermans: Erstens wissen wir noch nicht, ob die S&D-Fraktion nicht doch Erste sein wird. Wir werden groß bleiben, knapp dran an der Fraktion der Europäischen Volkspartei. Zweitens geht es darum, im EU-Parlament eine neue Mehrheit zu bilden. Das gibt es auch in Mitgliedstaaten, dass nicht die größte Partei regiert. Ich finde es gut für die europäische Demokratie, dass wir einmal versuchen, die Selbstverständlichkeit der Macht der Konservativen infrage zu stellen.

STANDARD: Das ist eine klare Kampfansage gegen EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber.

Timmermans: Ich werde mich bemühen zu prüfen, ob es eine Mehrheit gibt von Tsipras bis Macron.

STANDARD: Vom griechischen Ministerpräsidenten, der der Linksfraktion nahesteht, bis zum französischen Präsidenten, der mit den Liberalen eine Fraktion plant?

Timmermans: Das werde ich versuchen. Es deckt ein breites Spektrum ab, wobei es bei den Liberalen auch verschiedene Arten gibt. Es gibt die Neos oder die FDP, die eher konservativ ist.

STANDARD: Wie realistisch ist es, eine so heterogene Gruppe zu einem Bündnis zu schmieden?

Timmermans: Mal sehen. Aus meiner Sicht ist das möglich, wenn wir uns über die wichtigsten Themen verständigen. Klimakrise, soziale Politik, Steuern für die großen Internetkonzerne, die jetzt keine Steuern zahlen, Energiepolitik, Außenpolitik. Es wird möglich sein, eine progressive Dynamik zu bilden, die im EU-Parlament dazu führen könnte, dass wir ein solches Bündnis zustande bringen.

STANDARD: Wer arbeitet an dieser Koalition?

Timmermans: Das werden wir mit den Fraktionen im Europäischen Parlament besprechen. Und im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs machen das Pedro Sánchez und António Costa, bei den Liberalen sind es Mark Rutte und Charles Michel, die die Gespräche führen.

STANDARD: Also die Premierminister von Spanien, Portugal, den Niederlanden und Belgien plus Macron. Wird es am Dienstag beim EU-Gipfel schon Personalentscheidungen geben?

Timmermans: Das ist zu früh. Es wird eine Diskussion über das weitere Vorgehen geben.

Timmermans mit STANDARD-Korrespondent Thomas Mayer (re.) in Barcelona.
Foto: Thomas Mayer

STANDARD: Wenn Sie Kommissionspräsident werden, wie wollen Sie die Kommission zusammenstellen und führen?

Timmermans: Ich würde den Regierungschefs sagen, schickt mir jeweils zwei Kandidaten, mindestens eine Frau darunter. Ich will zum ersten Mal Parität in der Kommission schaffen, gleich viele Frauen wie Männer. Zweitens würde ich sagen, das Programm soll in einer offenen Weise erarbeitet werden, sodass alle politischen Parteien, die sich im Parlament an der Koalition beteiligen, in der Arbeit der Kommission verankert sind. Wir brauchen Kommissare, die das Programm zum Ausdruck bringen. Das muss sichtbar sein. Und die Vizepräsidenten der Kommission müssen eine deutliche politische Rolle spielen.

STANDARD: Sie waren der Stellvertreter von Juncker seit 2014. Würden Sie sein Modell einer "politischen Kommission" fortführen oder von den Regierungschefs die Verkleinerung der Kommission verlangen, wie Kurz das tut?

Timmermans: Ich habe gehört, dass manche das vorgeschlagen haben. Das ist nicht neu, kommt immer wieder. Es wäre auch theoretisch möglich, die Kommission zu verkleinern, aber politisch unmöglich. Denn nach dem Referendum in Irland zum EU-Vertrag von Lissabon haben die Regierungschefs deutlich gesagt, dass jeder Mitgliedstaat seinen Kommissar behält. Es gibt viele Staaten, die darauf bestehen, da kann Kurz es noch so oft sagen.

STANDARD: Wie sähe Ihre Kommission aus?

Timmermans: Eine andere Möglichkeit ist, die Kommission anders zu strukturieren. Ich würde persönlich als Präsident die Verantwortung für Nachhaltigkeit übernehmen. Die Kommissare würde ich verantwortlich machen nach den 17 Zielen der Uno für nachhaltige Entwicklung. Und ich würde den Vizepräsidenten mehr als bisher eine politische Rolle zuordnen. Sie sollen Beschlüsse vorbereiten und nicht nur koordinieren.

STANDARD: Sie sollen Politik machen?

Timmermans: Es sollte so sein, dass nicht nur der Kommissionspräsident alles in der Hand hält.

STANDARD: Juncker hatte angekündigt, persönlich mehr in Erscheinung zu treten, was er dann nicht tat. Würden sie selber nach Kommissionssitzungen vor die Presse treten?

Timmermans: Das mache ich, wie in den Mitgliedstaaten auch. Wenn eine Kabinettssitzung stattfindet, gibt es hinterher eine Pressekonferenz. Ich würde das auch selber so machen.

STANDARD: Was Ihnen leicht fällt, weil sie so viele Sprachen sprechen, sieben insgesamt, und das praktisch akzentfrei. Wie lernt man so was?

Timmermans: Wenn man das als Kind lernt. Wenn man als Kind in eine neue Schule kommt, was will ein Kind dann? Es will aufgenommen werden, nicht auffallen. Das kann man am besten tun, indem man so schnell wie möglich die entsprechende Sprache lernt. So war das bei mir. Mein Vater war Diplomat, und ich musste oft umziehen. Und dann bin ich auch von Literatur fasziniert, das geht zusammen. Sprache ist mehr als ein Instrument, man vermittelt Kultur, Gefühle. Ich bin von den radikalen Linken in meinem Land angegriffen worden. Sie sagten, ich verstünde die einfachen Leute nicht mehr, weil ich so viele Sprachen spreche.

STANDARD: Weil Sie zu gebildet sind. Was haben Sie geantwortet?

Timmermans: Meine Antwort war ganz einfach: Es ist doch viel besser, wenn man mit den Menschen in Europa in ihrer eigenen Sprache sprechen kann, nicht nur Englisch.

STANDARD: Befürchten Sie, dass die Wahl der Kommission verzögert werden könnte wegen des Brexits?

Timmermans: Nein, das glaube ich nicht. Die Briten haben Interesse daran, dass das gut verläuft. Die werden keine Schwierigkeiten machen. Am 31. Oktober wird Schluss sein.

STANDARD: Sie sind für Grundrechte zuständig, für die Verfahren gegen Ungarn und Polen. Wie geht das weiter?

Timmermans: Bei Ungarn habe ich große Sorgen. Bei Polen bin ich eher zuversichtlich. Dort ändert sich die Gesellschaft. Ich war in Warschau – keine Partei macht dort Wahlkampf gegen Europa, nicht einmal die PiS. Warum? Sie wissen, dass mehr als 80 Prozent der Polen für Europa sind. Das Komische ist, dass Polen nach drei Jahren der national-konservativen Regierung proeuropäischer geworden ist.

STANDARD: Und Ungarn?

Timmermans: Dort ist die Presse so total unter Orbán-Kontrolle geraten, da ist es ganz anders. Dort ist es noch immer möglich, die Menschen an ihre Ängste zu fesseln. Ich werde jedenfalls alles in meiner Macht Stehende tun, dass es nicht dazu kommt, dass wir die Ungarn verlieren. Mein Vater war Mitte der 1980er-Jahre Diplomat in Ungarn. Ich habe damals gespürt, wie das Land sich für Freiheit eingesetzt hat, mehr Mut hatte als andere Länder der Region – und das auch zeigte. Es wäre eine Tragödie, wenn wir Ungarn verlieren. Aber wenn Viktor Orbán so weitermacht, wird Ungarn immer weiter politisch isoliert in Europa. Ich hoffe, dass die EVP endlich dazu kommt, einzusehen, dass es ein riesiger Fehler war, Orbán so lange zu beschützen. Jetzt, wo er allein dasteht, ist er schwächer.

STANDARD: Sie können nur Präsident werden, wenn das Spitzenkandidatenmodell hält. Präsident Macron und mehrere Premierminister haben das in Sibiu offen infrage gestellt. Kann es sein, dass am Ende weder Sie zum Zug kommen noch Weber?

Timmermans: Das haben die vor fünf Jahren auch gesagt. Man kann aber nicht rückgängig machen, was das Europäische Parlament schon beim letzten Mal gemacht hat. Man kann dem Parlament diese Macht nicht mehr entziehen.

STANDARD: Worauf kommt es an im Leben?

Timmermans: Ganz persönlich für mich ist das Wichtigste im Leben, dass ich meinen Kindern in die Augen schauen und sagen kann: Ich habe alles für euch getan, was in meinen Möglichkeiten lag. (Thomas Mayer aus Barcelona)