Seit Sebastian Kurz' Machtübernahme ist nichts ist mehr selbstverständlich. Alles muss jeden Tag erstritten werden.

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"Wir müssen lernen zu streiten", sagt der Kabarettist Hosea Ratschiller. Im Gastkommentar erklärt er, warum die Zeit der "Pseudoharmonie" der Sozialpartnerschaft beendet ist.

Der Misstrauensantrag gegen die Regierung ist demokratische Normalität und nur in Österreich eine Ausnahme. Die Sondersitzung im Nationalrat hat einen Wendepunkt in Österreichs Geschichte sichtbar gemacht.

SPÖ und ÖVP vertreten gegensätzliche Weltbilder. Die Idee des Sozialen trifft auf die Idee der Konkurrenz. Weltweit bekämpfen einander solche Parteien mit allen politischen Mitteln. In der Demokratie ist das Parlament der Ort dieser Auseinandersetzung. Dabei geht es nicht um Befindlichkeiten. Es geht um politische Interessen.

Behäbige Verfassung? Demokratie!

Österreichs Verfassung ist penibel um Demokratie bemüht. Sie verteilt Macht auf sehr viele Schultern. Das liegt daran, dass sie geprägt ist von den Erfahrungen der 1920er-Jahre. Sie will Bürgerkrieg verhindern und autoritäre Kräfte bändigen. Deshalb schreibt sie den friedlichen Ausgleich gegensätzlicher Interessen fest. Das Ausmaß ist weltweit einzigartig. Mittlerweile legt sie zum Beispiel sogar fest, dass Lobbying kein Privileg der Reichen sein darf. Und dieses "darf" ist kein moralisches Gequatsche, sondern ein Verfassungsgesetz. Deshalb gibt es in Österreich eine so starke Arbeiterkammer. Nur in Österreich.

Kritiker sagen, der wunde Punkt dieser Verfassung sei ihre Behäbigkeit. Das Land müsse an die Geschwindigkeit der Globalisierung angepasst werden. Allerdings kann man statt "Behäbigkeit" eben auch "Demokratie" sagen. Bei uns reden viele mit. Befehle von oben kommen langsamer unten an. Manchen fließt das Geld nicht ungebremst genug, weil bei vielen ein bisserl was hängen bleibt. Ob das Wohlstand oder Stillstand bedeutet, das ist genau der Konflikt, der jetzt zur offenen Streitfrage wird.

Keine demokratische Öffentlichkeit

Warum aber wird Österreichs Konsensdemokratie gerade gekippt? Sie ist doch objektiv erfolgreich. Das Land schaukelt in seiner sozialen Hängematte vergleichsweise unbeeindruckt durch eine Welt voller Krisen. Bei uns gibt es zwar viele Funktionäre, aber dadurch fühlen sich auch viele zuständig, und wenige bleiben übrig. Weniger als anderswo. Die Sozialpartnerschaft kann Linke und Rechte gleichermaßen zu Patrioten machen. Wieso soll die jetzt weg?

Weil Österreich zwar eine demokratische Verfassung hat, aber keine demokratische Öffentlichkeit. Das Beste für alle wurde jahrzehntelang hinter verschlossenen Türen geboren. Sichtbar wurde oft erst das Ergebnis. Aber vor dem Kompromiss kommt der Konflikt. Auch in Österreich gibt es gegensätzliche Interessen. Ein Vorarlberger Industrieller und ein Wiener Hackler haben wenig gemeinsam. Wir haben keine Routine darin, diese Konflikte darzustellen. Aber sie finden statt.

Streiten lernen

Unsere Ignoranz gegenüber realen Konflikten bereitet den Boden für Scharlatane. Die erfinden dann einfach Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Die kann man nach Belieben kontrollieren, vor allem mit Medien ohne Redaktion. Dass uns diese Paralleluniversen dümmer und wütender machen, ist den Scharlatanen nur recht. Denn ihnen geht es ausschließlich um den eigenen Gewinn. Land und Leute sind ihnen gleichgültig.

Was also tun? Ich glaube, wir müssen lernen zu streiten. Der kommende Nationalratswahlkampf muss geprägt sein von sinnvoller Polarisierung. Sonst wird die Scharlatanerie gewinnen. In den vergangenen beiden Jahren wurde die Sozialpartnerschaft in Österreich einseitig aufgekündigt. Erst war ich darüber empört, ich war tieftraurig, weil das für mich ein Stück Heimat war. Aber mittlerweile kapiere ich, weshalb das notwendig war. Diese Pseudoharmonie bringt uns in Teufels Küche. So geht es nicht weiter.

Selbstvergessenheit der Wohlstandskinder

Platt gesagt haben das die Arbeitgeber zuerst verstanden. Sie haben angefangen, ihre unmittelbaren Interessen offensiv zu forcieren. Die Vertreter der Arbeitnehmer wurden aus Gremien gedrängt, im Parlament gedemütigt, öffentlich diskreditiert. Trotzdem haben die Attackierten weiter den Konsens eingefordert, wollten zurück hinter die verschlossene Tür, anstatt klar und deutlich dagegenzuhalten. Wahrscheinlich ist es wirklich nicht leicht zu kappen, was man für die Wurzeln des eigenen Aufstieges hält. Aber auch diese Wurzeln wurden einmal erkämpft. Die Sozialpartnerschaft wurde oft ein Kalter Krieg genannt. Ich wusste nie, was damit gemeint war. Jetzt ist es mir klar.

Wenn ich gefragt werde, was ich gut finde an Sebastian Kurz, dann antworte ich, dass er Österreichs liberale Öffentlichkeit zur Demokratie zwingt. Er ist die Abrissbirne für die Selbstvergessenheit der Wohlstandskinder. He came in like a wrecking ball. Nichts ist mehr selbstverständlich. Alles muss jeden Tag erstritten werden. Ab sofort müssen alle laut sagen, was sie wollen, und es dann auch durchsetzen, mit allen demokratischen Mitteln. Heute wird das sehr klar werden. Die Zweite Republik ist Geschichte. (Hosea Ratschiller, 27.5.2019)