Alles im Leben ist Mathematik, sagte mein Mathematiklehrer. Nicht dass das falsch gewesen wäre, aber bei uns blieb nur hängen, dass er den Satz auch für seine beiden anderen Fächer in Dauerschleife laufen ließ. Physik und Chemie. Jeweils mit absolutem und Alleingeltungsanspruch. Und so relativierte jeder der Sätze die Glaubwürdigkeit der anderen. Am Ende blieb nix übrig. Obwohl alles stimmte.

Das hat natürlich mit dieser Geschichte nichts zu tun. Trotzdem ging sie mir durch den Kopf, als Stefan, Daniel und ich aus dem Wagen sprangen, unsere Rucksäcke schnappten und Richtung NV Arena starteten. So wie etliche andere auch. Wir waren in den letzten zehn Minuten gerade 100 Meter weitergekommen. Die Wechselzone würde um 6.30 Uhr schließen. Zwischen ihr und uns lag ein Kilometer. Ein Kilometer stehender Stau. Am Sonntag um 5.49 Uhr morgens.

Foto: thomas rottenberg

Hatten wir uns verrechnet? Um vier hatte der Wecker geläutet. Um fünf hatten Nina und Stefan mich und Daniel eingesammelt. Nach St. Pölten fährt man um fünf in der Früh … und so weiter. In der Theorie stimmte die Rechnung. Aber alles im Leben ist nicht nur Mathematik, sondern auch Physik: Wenn ein Körper an einem Ort ist, kann zur gleichen Zeit kein zweiter dort sein. Wenn 2.100 Triathletinnen und Triathleten am gleichen Tag zur gleichen Zeit in der Wechselzone des St. Pöltener Ironmans Fahrräder und Transition-Bags (also die beiden Beutel mit dem Rad- und dem Laufgewand) noch einmal checken wollen, sagt das Nadelöhr "Zufahrt" irgendwann "Nichts geht mehr".

Also ließen wir Nina mit dem Auto allein – und joggten. So wie alle anderen. Natürlich ging es sich aus. Das tut es immer. Auch für die, die allein angereist waren. Weil alles im Leben nicht nur Mathematik, Physik und Chemie ist, sondern auch Pragmatismus: Die Ironman-Macher haben kein Interesse daran, dass 30 Prozent der Teilnehmer eines Bewerbes gar nicht bis zum Start kommen.

Foto: thomas rottenberg

Wobei mir das Nicht-rechtzeitig-an-den-Start-Kommen nichts ausgemacht hätte. Ganz ehrlich? Es wäre mir sogar recht gewesen: Ich hatte keine Lust. Das hatte nichts mit Nervosität, Angst oder Verletzungen zu tun. Auch das Wissen, dass ich weder in guter, geschweige denn in Personal-Best-Form bin, war nicht schuld. Ich muss weder mir noch sonst wem beweisen, dass ich einen 70.3-Triathlon "kann". Wenn man das einmal geschafft hat, halbwegs in Form ist, rechnen kann und nix Blödes dazwischenkommt, weiß man, ob – oder dass – und wie man die 1,9/90/21 Kilometer Schwimm-Rad-Lauf-Session runterwuzeln kann. Irgendwie halt.

Nur: Wozu? Das klingt überheblicher, als es gemeint ist: Ein Triathlon ist kein Spaziergang. Nie. Und nur weil der "volle" Ironman doppelt so lang wie der 70.3 ist, ist das hier keine halbe Sache: Auch die Mitteldistanz geht voll rein. Das weiß ich. Meine Lustlosigkeit hatte mit Geringschätzung nichts zu tun – und war auch nicht plötzlich gekommen. Ganz im Gegenteil. Während meinen Teamkolleginnen und -kollegen beim Training, in Cesenatico am Trainingslager, aber auch beim Blödeln und Plaudern von Woche zu Woche die Vorfreude auf und die Aufregung vor dem Wettkampf mehr und mehr aus den Augen strahlte, war da bei mir nichts. Ach, nächste Woche ist Ironman? Jo, eh. Na und? Ich war stinksauer. Auf mich. Und neidig auf die anderen: Wann und wieso hatte ich zu brennen verlernt? Ich weiß, wie geil es sein kann, eigene Grenzen auszuloten. Aber wieso weiß ich es, spüre es aber nicht?

Foto: Nina Novak

Harald Fritz, mein Coach und Teamchef, las mir die Leviten. Nicht erst vor dem Start. Nicht nur einmal. Das Training, sagte ich, mache ja eh Spaß. Aber Wettkampf? "Dann sieh es als langes Koppeltraining (aneinandergehängte Trainingseinheiten, Anm. TR)." Und davon, dass ich mein Rad am Tag vor dem Rennen nicht zumindest einchecke, dürfe keine Rede sein: "Nicht ins Wasser hüpfen kannst du Sonntagfrüh immer noch. Aber stell dir vor, du kannst das nicht – und kommst am Sonntag drauf, dass du vielleicht doch …"

Und dann war da noch Stefan (links im Bild). St. Pölten würde sein erster 70.3er sein. "Geht nicht, dass du nicht startest", schrieb er mir irgendwann, "ich brauch dich da." Obwohl du mich im Wasser nicht siehst, am Rad Windschatten- und Nebeneinanderfahrverbot herrscht und du beim Laufen deutlich stärker bis als ich? "Du startest, okay?"

Natürlich stand ich dann im Neo da. Unschlüssig. Harald nahm mich zur Seite: "Dass du es versuchst, dass du gibst, was geht, ist auch eine Frage des Respekts. Vor den anderen im Team. Und vor dir selbst."

Foto: Nina Novak

Wenn ich also schon mal da bin … Schließlich habe ich dafür trainiert. Schnell war ich im Wasser noch nie. Das werde ich auch in diesem Leben nicht mehr sein. Aber ich schwimme verdammt gerne. Und habe, im Gegensatz zu vielen anderen, auch mit Nichtbadewannentemperatur keine echten Probleme. 16 Grad, hatte es beim Racebriefing geheißen, hätten Ratzersdorfer und Großer Viehofener See (man schwimmt hier in zwei Seen und läuft das kurze Stück dazwischen).

Ich bin bekennender Warmduscher – aber in den letzten Wochen waren wir mehrmals auch bei nicht einmal zwölf Grad ins Wasser gegangen. Bei meinem bisher leider einzigen Swimrun-Bewerb, dem Ötillö im Engadin, war die Wassertemperatur nur an einer Messstelle und auch nur offiziell gerade einmal zweistellig gewesen. 16 Grad? Im Neo? So what? Und wenn nicht: 300 Meter nach dem Start kommt am Ufer die "Seedose", ein Strandrestaurant. Das hat nicht nur offen, sondern auch Frühstück.

Foto: Nina Novak

Natürlich war es ab dem ersten Zug wirklich leiwand. Ich hatte mich ganz bewusst bei den langsamen Schwimmern angemeldet. War am Ende der vorletzten Startwelle ins Wasser gegangen, suchte eine Linie möglichst weit außen – und überholte die ganze Zeit konfliktfrei und auch ohne nur einmal "überschwommen" zu werden. Gut so.

In den langsamen Schwimmblöcken gibt es immer Menschen, die vom ersten Meter an Brust schwimmen. Mir wäre das zu mühsam. Vor allem aber hasse ich die Massenschlägereien und das Gedränge im Wasser. Speziell an den Wendebojen. Ob ich außen 100 oder 150 Meter mehr schwimme, ist mir deshalb egal. Erst recht, wenn ich eh nur hinten gemütlich mitdümple: Zwei oder drei Minuten spielen im Vergleich zu der Zeit, die man dann am Rad sitzt, keine Rolle.

Foto: Nina Novak

Auf dem Weg in die Wechselzone musste ich mir eingestehen, dass ich das Schwimmen gerade richtig genossen hatte. Auch das Wettkampffeeling machte Spaß. Wirklich angesteckt hatte es mich zwar noch nicht, aber es kitzelte. Immerhin.

Trotzdem lief ich nicht in die Wechselzone, sondern ging. Wenn man vom Wasser an Land kommt, hat der Körper den größten Stress: Von der Waagrechten in die Senkrechte – und Gas geben. Da geht der Puls rauf. Ich hab da schon Leute umfallen gesehen. Ich ließ die ehrgeizig um die goldene Wechselzonen-Erdbeere kämpfenden Leute vorbei. Erst als ich Harald am Streckenrand sah, trabte ich gemächlich los. Ganz gemütlich.

Foto: Nina Novak

Dann aber machte ich einen echten Fehler: In der Wechselzone hängt jeder das, was er für die nächste Etappe braucht, in Säcken auf lange, durchnummerierte Hakenleisten. Im blauen Sack sind Radschuhe und Helm. Wer keinen Einteiler unter dem Neo trägt, hat auch sein Radshirt drin. Und was man halt sonst noch so am Bike zu brauchen glaubt. Auf jedem Sack steht die Startnummer. Als ich meinen Sack tags zuvor aufgehängt hatte, hatte ich noch geschmunzelt, weil irgendwer in meiner Reihe seinen Beutel zusätzlich mit einem Band markiert hatte: So durch, dass man die eigene Nummer vergisst oder nicht mehr lesen kann, kann man doch nicht sein.

Am Sonntag schnappte ich meinen Beutel und ging zum Umkleidebereich (direkt hier wäre es zu eng). Aber: Heilige Scheiße, das da war nicht mein Helm!

Also alles wieder reinstopfen. Sack zu. Zurück zu den Haken. Sicherheitshalber auch einen Referee informieren: Denn was, wenn Nummer 2.287 zehn Sekunden nach mir reingekommen ist und jetzt verzweifelt sucht? Zum Glück war Startnummer 2.287 noch nicht da. Memo an mich: Nächstes Mal mit Bändchen.

Foto: thomas rottenberg

Radfahren also. Helm auf. Helm zu. Rad schieben (Alle: im Laufschritt. Ich: gehend.) Erst nach der Linie aufsteigen. Eh logisch. Klingt deppensicher. Aber irgendwer steigt trotzdem zu früh auf. Auf einem T-Shirt hatte ich tags zuvor gelesen "Schwimmen, freuen, laufen". Ich freute mich auf die jetzt kommenden 90 Kilometer fliegender Einsamkeit.

Ja eh: Natürlich ist man nicht wirklich einsam. Da sind noch 2.100 andere Spinner. Aber weil Windschattenfahren offiziell verboten ist und man außer beim Überholen zwölf Meter Abstand halten muss (was im Jedermenschfeld schon rein rechnerisch nie ganz funktioniert), ist Triathlonradeln weniger kommunikativ als normales Rennradfahren.

Macht nix: Die 90 Kilometer von St. Pölten sind eine traumhafte Meditation.

Foto: Florian Klemm

Landschaftlich sowieso. Dazu später. Bevor man in die Wachau kommt, geht es aber auf der S33, der Kremser Schnellstraße, nach Traismauer. Die De-facto-Autobahn ist am Ironmantag gesperrt. Und auf Autobahnasphalt kann man richtig schön Gas geben. Diesen Sonntag besonders: Es gab satt Rückenwind. Mühelos mit einem Schnitt weit jenseits der 40km/h dahinzufliegen ist für "Hobetten" alles andere als selbstverständlich. War das Schwimmen schon fein gewesen, war das hier schlicht großartig. Ich begann diesen Bewerb zu lieben. Da war es, das Brennen – und es kam nicht aus den Oberschenkeln.

Foto: Florian Klemm

Natürlich wurde es dann auch anstrengend. Das soll es ja. "Wäre es einfach, hieße es Fußball", ätzt ein Teamkollege gern (er kickt selbst in einem Verein). Aber die Blicke entschädigen für jeden Fluch: Die St. Pöltener Ironmanstrecke führt bei Hollenburg ins Hügelige. Die Blicke auf die Donau, in Richtung Krems und zum Stift Göttweig sind der feuchte Traum jedes Touristikers.

Blöderweise verbietet der österreichische Triathlonverband die Mitnahme von Kameras. Das ist aus Sicherheitsgründen nachvollziehbar, ließe sich aber mit präzisen Absprachen und Auflagen relativ einfach lösen. Die Firma Ironman hätte damit, dass man sich als Journalist akkreditiert und die Gopro festschnallt, ebenso wenig ein Problem wie etwa der deutsche Triathlonverband.

Aber die Regeln sind nun einmal Regeln – und an die halte ich mich. Ich habe es in der Vergangenheit mehrfach versucht. Einmal gab es sogar eine Fotoerlaubnis für die fix mit dem Rad verbundene Gopro. Nur ist die dann während des Rennens (ich war längst im Wasser) widerrufen worden: Ich wäre um ein Haar in der ersten Wechselzone aus dem Bewerb genommen worden. Also versuchte ich es heuer gar nicht: Ich würde halt wieder Bilder von der Site-Inspection-Ausfahrt vor ein paar Wochen verwenden. Schade.

Foto: thomas rottenberg

Ewig schade. Weil die Fahrt durch die Wachau ebenso ein Hammer war wie der knackige Anstieg nach Gansbach, eine der Schlüsselstellen der Runde – und in meinen Augen heftiger als der so gefürchtete Rupertiberg beim "großen" Ironman in Klagenfurt.

Egal. Denn es lief großartig. Und ich war nicht der Einzige, der mehr lachte und strahlte als er litt. Sowohl auf als auch an der Strecke war Party, Party, Party.

Foto: Florian Klemm

Irgendwann, bei Obritzberg oder Großrust, also dem letzten Anstieg, rief aus einer Partygruppe jemand "He, soll ich dir die Fotos für deinen Bericht schicken?" Supernett! Danke! Aber ich kann dir nix zahlen! "Macht nix, mach ich gern!"

Ich drehte den Kopf: Der Rufer war kein Feiernder am Straßenrand (von der Stimmung hier könnten sich die faden Wiener entlang großer Teile der VCM-Strecke einiges abschneiden), sondern gehörte zu den Rad-Service-Teams, die das Rennen begleiten.

Dass er Florian Klemm heißt, erfuhr ich erst nachher. Dass ein Amateurrennen ohne Leute wie ihn schnell elend werden kann, wusste ich schon vorher. Wie das mit der fliegenden Bikeservicetruppe genau funktioniert, nicht. Darum überlasse ich kurz Florian das Wort.

Und falls das jemandem wie Werbung vorkommt: Damit kann ich in diesem Fall gut leben – die Mitarbeiter des St. Pöltener Familienunternehmens Radsport Strobl sind bei Rennen als Volunteers unterwegs. Beim Ironman mittlerweile zum 12. Mal.

Foto: Florian Klemm

"Am Sonntag ist unser Einsatz ein freiwilliger Service. Wir stehen an sechs fixen Standorten und sind auch mobil unterwegs. Insgesamt sind vier Fahrzeuge und ein Motorrad mit Ersatzteilen, Werkzeug und 80 Laufrädern im Einsatz. Wir haben heuer gleich nach der Wechselzone acht Laufräder gewechselt. Über den gesamten Tag waren es 25. Wir notieren die Startnummer und übernehmen das kaputte Rad. Nach dem Ziel wird retourgetauscht. Sollte Material an der Strecke benötigt werden, wird nach dem Zieleinlauf verrechnet. Bis jetzt ist noch jeder gekommen und war mehr als glücklich, sein Rennen beenden zu können. Arbeitszeit wird keine verrechnet: Wir machen diesen Sonntagsservice freiwillig und unentgeltlich.

"Heuer hat eine Teilnehmerin vier von sechs Pedalplattenschrauben verloren. Da wird Ausklicken (Rennradpedale funktionieren ein bisserl wie Skibindungen, Anm. TR) gefährlich. Ein Teilnehmer war auch glücklich, vor dem Anstieg Gansbach das hintere Laufrad zu tauschen. Er hatte zwar keinen Schaden, wollte aber die "Heldenkassette" (eine in der Ebene praktische Zahnkranzkombination, Anm. TR) auf eine bergtaugliche wechseln."

Foto: Florian Klemm

"Zu zwei Unfällen kam es leider auch. In beiden Fällen konnten die Athleten jedoch selbstständig nach kurzem Service durch die Sanitäter am Körper und uns an den Rädern die Fahrt wiederaufnehmen.

"Schön sind der Dank und die positiven Reaktionen der Athletinnen und Athleten, sei es noch auf der Strecke oder danach im Ziel. Eines der diesjährigen Highlights: Ein deutscher Starter war anfangs geradezu 'unglücklich' über den schnellen Schlauchwechsel. Gedanklich hatte er sich schon auf Bier eingestellt – aber jetzt musste er die noch verbleibenden 15 Kilometer am Rad und dann auch noch die 21 Kilometer auf der Laufstrecke absolvieren."

"Was dann besonders freut: dass etwa die Siegerin der Damenwertung und die Zweitplatzierte, die am Samstag auf unseren Service vertraut hatten, am Sonntag extra nochmals vorbeikommen, um sich zu bedanken. Das ist etwas, was zählt."

Schreibt Florian Klemm. Dem Dank schließe ich mich an – obwohl ich froh bin, wenn Florian Zeit zum fotografieren hat. Es ist wie bei den Sanitätern: Die sollen sich bitte richtig langweilen. Aber unbedingt da sein.

Foto: Florian Klemm

Während der ersten 60 Kilometer hatte es so ausgesehen, als ginge sich eine Radzeit unter drei Stunden bei mir locker aus. Aber aus dem Rückenwind war nun böiger Seitenwind geworden: So richtig tuschen ließ es da kaum mehr wer. 65 km/h sind bergab flott genug, wenn die Haut die einzige Knautschzone ist und man zusehen kann, wie es die Leute vor einem einen Meter versetzt, sobald sie an nur einem am Straßenrand stehenden Traktor vorbeiziehen: Yolo. Es geht um die Freude. Runter vom Gas.

Foto: Florian Klemm

Vom Bike aufs Rad. Wechselzone. Roter Sack. Diesmal schaue ich genau. Raus aus den Radsachen, rein in die Laufschuhe. Der Wetterbericht hatte eher mäßiges Wetter angesagt – dennoch prügelte die Sonne runter.

Neben mir cremt sich einer ein. Ich schnorre Sonnencreme – und schmiere. Bei meinem Hauttyp heißt schmieren schmieren. Gründlich. Die Minuten müssen drin sein.

Raus. Am Streckenrand stehen Freunde und Buddies, die eigens angereist sind: Moni und Nick, Irene und Roland etwa. Ja, so was freut. Kurz abklatschen. Jetzt langsam, ganz langsam anlaufen – und nur wenn es sich gut anfühlt, nach und nach das Tempo anziehen. Was nun kommt, ist nämlich immer noch ein Halbmarathon. Allein für den trainieren andere Leute ein halbes Leben – und sind mächtig stolz, wenn sie überhaupt durchkommen. Und das vollkommen zu Recht.

Foto: Monika Kalbacher

Die St. Pöltener Ironman-Laufstrecke geht von der Arena am rechten Ufer der Traisen bis zum Regierungsviertel. Dann über die Brücke, ein Stück flussabwärts, eine Schleife zum Hauptplatz und zurück zur Arena Nova. Macht etwa 10,5 Kilometer. Das Mal zwei heißt Halbmarathon.

Der schönere, interessantere Teil der Strecke ist weit weg vom Zielgelände. Aber wenn man auf Freunde wartet, die teils noch am Rad sitzen oder knapp vor dem Zieleinlauf sind, steht natürlich jeder dort, wo man das eigene Rudel am öftesten sieht. So fehlen dann leider die Impressionen der auf dem Hauptplatz aus den Cafés zusehenden und frenetisch anfeuernden "Locals".

Foto: Nina Novak

Schade, aber egal. Die erste Runde war ganz okay. Ich war mit einer 5'30"-er-Pace (fünfeinhalb Minuten pro Kilometer, Anm. TR) angelaufen, war dann aber rasch ein bisserl schneller geworden. 5'20" gingen gut. Weil es richtig heiß war, beließ ich es dabei und ließ mir an den Labstellen auch Zeit: Schneller werden konnte ich eventuell ja später noch. Abwarten. Denn den Fehler, die Vorbelastung der letzten Stunden zu unterschätzen, nur weil es mir grad gut läuft, habe ich oft genug gemacht. Die vielen Geher auf der Strecke waren mir eine Warnung.

Kurz nach Beginn meiner zweiten Runde tauchte vor mir eine bekannte Silhouette auf: Stefan. Nach meiner Rechnung und seinem Plan hätte er ganz woanders, viel weiter vorne sein müssen.

Foto: Nina Novak

Stefan lief unrund. Das sah ich, bevor ich ihn einholte. "Nein, es geht mir nicht gut." Magenprobleme. Ein Klassiker am letzten Tri-Teil. Stefans Plan war eine 5'10er-Pace gewesen. Er kann das auch. Aber hier kämpfte er um die 5'30". Wenn er jetzt nicht sofort deutlich langsamer würde, würde das nicht gut enden. Das Dumme an solchen Situationen: Man denkt, jetzt doch eh schon viel zu langsam zu sein – und kriegt das dennoch nahende Ende oft selbst erst mit, wenn es schon zu spät ist.

"Wir laufen das jetzt gemeinsam zu Ende. Du kommst an. Das ist ein Versprechen." – "Aber so schlecht geht es mir doch gar nicht!" – "Eh. Du kannst das. Das wissen wir beide. Und das zeigen wir jetzt allen. Und jetzt runter vom Gas. Sofort." Wir liefen 6'00". Manchmal 5'50". Neben und rund um uns gingen immer mehr – aber Stefan lief durch.

Foto: Nina Novak

Ab Kilometer 18 ging es Stefan sichtbar besser. Er wollte etwas beschleunigen, ich blieb auf der Bremse. "Es geht um nix. Du kommst an. Riskier keinen Krampf. Spar dir die Kraft für das Lächeln auf der Zielgeraden: Dort warten jetzt alle auf Dich. Die ganze Bande. Das ist dein erster 70.3er. Genieß es."

Noch 300 Meter bis zum Zieleinlauf. Am Streckenrand standen immer wieder Bekannte. Einer aus unserer Mannschaft kam uns entgegen – er war am Beginn seiner zweiten Runde. Abklatschen. Lachen. Stefan lief. 100 Meter. Noch bevor wir auf die Zielgerade einbogen, begann sein Gesicht zu leuchten. Und dann waren wir da.

Foto: Nina Novak

Was ich ihrem Freund da unmittelbar nach dem Zielbogen ins Ohr geflüstert hätte, fragte mich Nina später. "Nix", murmelte ich lahm. Weil sie mir ganz offensichtlich nicht glaubte und ich zu müde war, mir etwas Aufrüttelndes und groß Dramatisch-Emotionales einfallen zu lassen, sagte ich die Wahrheit: "Ich habe gesagt: 'Du kannst deine Uhr jetzt übrigens anhalten.'"

Foto: Nina Novak

Ein paar Minuten im Zielraum. Ohne sonstwen. Wortlos. Nur daliegen. "Haben wir das gerade wirklich gemacht?" stand in vielen Gesichtern glücklich-erschöpfter "Finisher" rundherum. Einige hatten die Augen geschlossen. Andere sahen in den Himmel. Oder ungläubig auf ihre Medaillen. "Haben wir das gerade wirklich gemacht?"

Von oben, von der Tribüne, winkte Nina herunter: Voriges Jahr waren sie und ich genauso genau hier gestanden. Auch zum ersten Mal. Stefan hatte damals ziemlich exakt das gleiche Foto gemacht: Nina wusste, wie es Stefan gerade ging. Ich erinnerte mich an etwas, was Harald mir am Tag vor dem Bewerb gesagt hatte: "Danach wirst du froh sein, es durchgezogen zu haben." Dann fiel mir ein, was mir Stefan vor ein paar Tagen geschrieben hatte.

Foto: Nina Novak

Eigentlich wäre diese Geschichte hier zu Ende. Aber da ist noch was: Aus unserem Team kamen alle durch. Alle mit einem Lächeln. Nur darum geht es. Das steckt an. Macht Lust, sich selbst wieder herauszufordern. An eigene Grenzen zu gehen – egal wo die sein mögen. Auf dem Gruppenbild fehlen ein paar Leute. Einige waren noch unterwegs. Andere schon auf dem Heimweg – um noch wählen zu können.

Um ein Held oder eine Heldin zu sein, muss man aber keinen Triathlon, keinen Ultra, keinen Marathon schaffen: Es geht darum, sich an etwas heranzuwagen, was man sich selbst früher nicht zugetraut hätte. Das gilt immer. Auch für einen Zwei-Kilometer-Nordic-Walking-Bewerb. Denn man kann den elenden Satz "Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist" auch positiv und als Motivation lesen. Dann wird daraus das Ironman-Motto: "Anything is possible".

Foto: Nina Novak

Noch ein Nachsatz. Obwohl mir Zeiten und Wertungen sonst vollkommen egal sind, möchte ich hier eine Ausnahme machen. Meine Vereinskollegin Jacqueline Kallina hat in St. Pölten am Sonntag nämlich ebenfalls ihren ersten 70.3er gemacht. Jacqui kam mit 4:37:29 ins Ziel. Das ist die siebentbeste Zeit aller Frauen. Also inklusive der sonst in einer eigenen Wertung gereihten internationalen Eliteathletinnen, von denen etliche nur auf Einladung von Veranstaltern anreisen und antreten.

"Na, die Frau Kallina macht da gerade ein paar der Pros ordentlich nervös", sagte der Platzsprecher angeblich, als sie einlief. Jacqueline schlug nicht nur etliche echte Namen der Szene, sondern wurde auch zweitbeste Österreicherin (Erste: Bianca Steurer) im Bewerb – aber im Gegensatz zu Steurer und den anderen Elitestarterinnen ist sie längst keine Profiathletin: Sie arbeitet in einem Fahrradgeschäft und ist Schwimmtrainerin. Das Resultat von St. Pölten ist ihr Ticket für die Ironman-Halbdistanz-WM in Nizza im September. "Ob ich Sponsoren habe? Machst du Witze? Mein Arbeitgeber, der Giant-Store in Klosterneuburg, hilft mir ein bisserl. Und ein Sportnahrungshersteller (Vitalogic, Anm.) versorgt mich mit Produkten. Also, falls du wen kennst oder sich wer bei dir meldet: Du weißt, wo man mich findet." (Thomas Rottenberg, 29.5.2019)

Foto: thomas rottenberg/Kallina