Wien – Heute will Dany Herzlinger nicht weinen. Das hat sie sich für den letzten Arbeitstag in der Semmelweis-Frauenklinik vorgenommen. Allerdings könnte es schwer werden. Viele Jahre verbinden die Wienerin mit dem Haus: Sie ist hier zur Welt gekommen, hat später ihre Ausbildung hier absolviert und ist nun seit mittlerweile 20 Jahren in dem traditionsreichen Haus beschäftigt. "Für mich ist das mehr als nur ein Arbeitsplatz. Uns Mitarbeiter verbinden hier so viele Erlebnisse – vor allem, aber nicht nur in der Geburtshilfe. Hier wurden Freundschaften, Ehen geschlossen. Den Ort als Kollektiv zu verlassen, das ist schon was", sagt Herzlinger nachdenklich.

Dany Herzlinger arbeitet seit 20 Jahren an der Semmelweis-Klinik.
Foto: Regine Hendrich

Diesen Mittwoch waren in der Semmelweis-Klinik die letzten Aufnahmen für Geburten, das letzte Baby kam am Donnerstag zur Welt. Bis Pfingstmontag hat das Krankenhaus noch geöffnet, dann war es das mit den geschichtsträchtigen Pavillons im 18. Bezirk. Das Team zieht nach Floridsdorf ins Krankenhaus Nord um, das ab Herbst Klinik Floridsdorf heißen wird.

Was Frauen an der Klinik schätzen

Das sorgt nicht nur bei Hebamme Herzlinger für Emotionen. Online findet sich etwa eine Petition für den Erhalt des jetzigen Standortes. Eingebracht wurde sie von einer jungen Frau, die – wie auch ihre Mutter – in der Klinik geboren worden war und letztes Jahr ihr erstes Kind dort bekommen hatte. "Wir drei Generationen von Müttern schwärmen von den Balkons, dem Parkgelände, der ruhigen Atmosphäre des Villenviertels, das die Klinik umgibt."

Nicht nur das zieht viele an: Die Semmelweis-Frauenklinik ist in Wien eine regelrechte Institution. Benannt nach dem Chirurgen und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis, der posthum "Retter der Mütter" genannt wurde, eröffnete die Klinik 1943. In den 1970er-Jahren wurde das sogenannte Rooming-in eingeführt – eine Premiere in Österreich: Das Baby kann nach der Geburt rund um die Uhr bei der Mutter bleiben und wird nur in medizinischen Ausnahmefällen in ein Kinderzimmer gebracht. Heute ist das Konzept in vielen großen Spitälern Standard.

Der Namensgeber des Hauses ist im Park mit einer Büste verewigt.
Foto: Regine Hendrich

Auch in anderen Bereichen ist die Klinik für den Patientinnenorientierten Ansatz bekannt. Das sorgt für Beliebtheit: Nach dem AKH kamen hier die meisten Babys in Wien zur Welt. 2017 waren es 2348.

Am Umzug wird aber auch die Petition nichts ändern, der ist schon seit vielen Jahren fixiert. Heute bröckelt der Putz von den einst prachtvollen Pavillons ab. Vor einem der Häuser steht ein älterer Herr, er bittet um ein Foto vor dem Eingang. "Ich war viele Jahre Rettungsfahrer und habe einige Schwangere hierhergebracht." Nun will der Mann ein Andenken vom letzten Tag.

Erinnerungsfotos vor dem Auszug

Auch im Haus zwei, wo sich die Kreißsäle befinden, spaziert eine Mitarbeiterin mit Kamera durch die leeren Gänge. Die Hebammen-Chefin lächelt und winkt ihr zu. "Das geht die letzten Tage schon die ganze Zeit so." Herzlinger steht mittlerweile vor einem riesigen, handgeschriebenen Plakat: ein Stundenplan für die ersten Tage am neuen Standort. Da erwarten die Mitarbeiter Betriebssimulationen und Einschulungen. "Man scheitert an den einfachsten Dingen, zum Beispiel Licht zu machen", sagt Herzlinger und lacht.

Viele Kisten und ein Plan für die ersten Tage im Krankenhaus Nord.
Foto: Regine Hendrich

Dass, während sie eine letzte Tour gibt, in einem der Kreißsäle das letzte Mal ein Baby zur Welt kommt, bekommt man nicht mit. Obwohl es so still ist wie nie zuvor. "Es sind gar nicht die Kisten, die überall herumstehen", sagt Herzlinger, als sie einen Stapel passiert. "Der mangelnde Betrieb ist so ungewohnt. Es ist leiser und leerer als sonst."

An den pastellfarbenen Wänden hängen hunderte Bilder von hier geborenen Kindern. Vielen Aufnahmen sieht man das Alter an, sie sind schon verblasst. Diese Collagen kommen nicht mit nach Floridsdorf. Auch das medizinische Equipment und die Betten bleiben zurück. Hier wird sich die Rudolfstiftung bedienen, zu der die Semmelweis-Frauenklinik seit 2002 organisatorisch gehört.

Leere und Stille statt hektischem Treiben: Ungewohnte Szenen in der Frauenklinik.
Foto: Regine Hendrich

Die Krankenanstalt im dritten Bezirk fungiert momentan auch als Ausweichquartier für Patientinnen der Semmelweis-Klinik. Denn erste Patientinnen betreut das Team in Floridsdorf erst ab dem 17. Juni. Die Patientenströme während der Umzugsphasen sinnvoll umzuleiten sei ein komplexes Unterfangen gewesen, "das sehr viele Absprachen mit anderen Häusern erforderte", sagt dazu Ayman Tammaa, der Primarius für Gynäkologie und Geburtshilfe in der Semmelweis-Klinik. Die Patientinnen seien alle rechtzeitig und ausführlich informiert worden. "Natürlich hat es vereinzelt Enttäuschungen gegeben, dass eine Geburt hier in dieser Zeit nicht garantiert werden konnte. Aber das waren Ausnahmen."

Neue Aufgaben in neuer Umgebung

Tammaa sitzt in seinem Büro auf einer weißen Ledercouch. Schief hinter ihm hängt ein Bild vom Namensgeber des Hauses, darunter stehen halb gepackte Kisten. Tammaa ist erst vor zwei Jahren an die Klinik gekommen. "Seit dem ersten Tag" sei der bevorstehende Umzug spürbar gewesen. Sukzessive habe er sein Team auf die neuen Aufgaben in Floridsdorf vorbereitet. Denn: Es ändert sich nicht nur die räumliche Umgebung. In der Semmelweis-Klinik habe man nur wenige Risikoschwangerschaften betreut, weil man dafür auch nicht entsprechend ausgestattet war. Auch Patientinnen mit akuten gynäkologischen Beschwerden werden deutlich häufiger zu betreuen sein.

Semmelweis und Ayman Tammaa, Primar an der Semmelweis-Klinik.
Foto: Regine Hendrich

"Gelassenheit ist die schönste Form des Selbstbewusstseins" steht in großen Lettern an der Wand des Teambesprechungsraums auf einer noch nicht eingepackten Pinnwand. Auch der Arzt wirkt inmitten des Kistenchaos gelassen. "Ich war die Woche wieder in Floridsdorf und dachte mir: Das wird total cool dort. Hier sind Frauen über Jahrzehnte hervorragend betreut worden. Aber alles hat seine Zeit und Berechtigung."

Eingepackt wird vielleicht sogar die Semmelweis-Büste, die vom Umzug unbeeindruckt im Park steht. Klar sei das aber noch nicht. Vorerst treten also nur Kisten und echte Köpfe die Reise über die Donau an. Und Taschentücher zum Tränentrocknen. (Lara Hagen, 8.6.2019)