Bruce Springsteen, frisch gebügelt, verlässt auf seinem neuen Album ausgetretene Pfade.

Foto: Sony Music

Zwar glaubt man ihm kein Wort, dennoch erliegt man ihm schon im zweiten Vers. Da singt Bruce Springsteen "I'm hitch hikin' all day long". Natürlich würde der Boss keine drei Sekunden allein am Straßenrand stehen. Aber als versierter Chronist des American Dream kann er das behaupten. Und man sieht ihn ja sofort vor sich, wie er dort steht, wie der Nagel seines Daumens Dreck aus dem Wind fischt und sein Blick in Richtung Horizont schweift. Dorthin, wo der Highway den Himmel küsst und sich hoffentlich bald die Silhouette eines Autos abzeichnet. Aufgelesen wird er schließlich von einem "family man" und seiner schwangeren Frau, später von einem Trucker. Fremde vertrauen einander, helfen sich, die Welt ist in Ordnung.

Sehnsuchtsorte

Willkommen in Western Stars, dem am Freitag erscheinenden 19. Album von Bruce Springsteen. Anders als im richtigen Leben ist das Image des Drifters, des Streuners bei ihm positiv besetzt. Die Sterne des Albumtitels weisen ihm den Weg, der Westen spielt die Rolle als nur vage definierter Sehnsuchtsort. Die USA ergeben zusammen ein großes Land, da gibt es viel zu sehen, bevor man sesshaft wird. Seine Wege bieten viele Gelegenheiten, sich zu verlaufen, sich zu verrennen oder falsch abzubiegen. Das steigert die Fallhöhe der Charaktere in Springsteens Songs beträchtlich. Traditionell sind es die sogenannten kleinen Leute, die in seinen Liedern die Hauptrolle spielen.

Fred Neil dürfte sich geschmeichelt fühlen, wenn er könnte: Bruce Springsteen mit Hello Sunshine.
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Doch anstatt diese Geschichten mit dem hemdsärmeligen Saxofon-Rock der ihn meist begleitenden E-Street-Band aufzublasen wie einen Heißluftballon, verzichtete der Superstar dieses Mal auf deren Unterstützung.

Stattdessen lässt er seine Geschichten von einer Instrumentierung tragen, die an Glen Campbells Alben aus den späten 1960ern erinnert. Der vor zwei Jahren gestorbene Songwriter war selbst ein Gigant. Campbell begann als Studiomusiker in Los Angeles. Als Mitglied einer Wrecking Crew gerufenen Bande von Studiomusikern spielte er dutzende Welthits ein. Seine eigenen, im Country verwurzelten Songs, bettete er auf eine Wolke aus Streichern und Bläsern. Das bescherte ihm und der Welt eine Reihe immergrüner Hits wie Wichita Lineman, Galveston oder Gentle On My Mind.

Achtstöckige Torten

Springsteen ahmt diese Ästhetik nach und nimmt den Arrangements die Zuckerhäubchen. So wie er Streicher auffährt, geht es ihm nicht darum, eine achtstöckige Hochzeitstorte zu vertonen. Bei ihm verdunkeln sie den Himmel, das Gemüt oder evozieren jene Sehnsucht, die ein unstetes Wesen nährt. Dazu greint die Pedal-Steel-Gitarre, und das Banjo tut, was ein Banjo tut. Ein wenig Pathos fällt dabei natürlich ab, aber das muss so sein.

Immerhin memoriert Springsteen in diesen Songs eine Zeit, in der der Glaube an ein Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten noch intakt war. Der Wille, an diesen von der Realität nur selten eingelösten Konjunktiv unerschütterlich zu glauben, speist den American Dream bis heute. Springsteen wandert entlang dieses Versprechens zurück in vergangene Zeiten; in diesen wurzelt auch seine plakative Bildsprache.

Tucson Train – irgendwann kommt jeder durch Arizona.
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Da gibt es natürlich ein Moonlight Hotel, das mit keinem GPS zu findende Somewhere North of Nashville, den ewigen Sonnenuntergang oder die Jagd nach wilden Pferden. Chasin' Wild Horses strapaziert die Klischees am meisten, denn als Symbol der Freiheit ersaufen die natürlich im eigenen Aufguss. In jedem Trailer hängt das Abbild von geföhnten Gäulen überm Esstisch – aber wahrscheinlich ist das schon das nächste Klischee. Diese Bilder sind der US-amerikanischen DNA von der Popmusik und dem Hollywoodkino eingeschrieben worden, das Balancieren damit ist das Geschäft des 69-Jährigen.

Tex-Mex-Quetsche

Angesichts der Stimmigkeit dieser neuen Arbeit fragt man sich, warum Springsteen nicht öfter wagt, die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Ein Song wie Sleepy Joe's Café mit seiner Tex-Mex-Quetsche wäre auf keinem Willy-DeVille-Album negativ aufgefallen, und sein Sundown könnte man glatt der britischen Band Travis unterjubeln.

Die Leichtigkeit dieser Songs steht im Kontrast zu den mit ihren Muskeln spielenden Rockern, die Springsteen in seiner Karriere zuhauf geschrieben hat. Eh okay, aber nach fast fünf Jahrzehnten muss ihn diese Gattung längst unterfordern. Ein paar Ausreißer wie das rühmliche Album Nebraska von 1982 machen nicht wett, dass er sich stilistisch nie weit von seinem Schrebergarten in New Jersey wegbewegt hat.

There Goes My Miracle – Bruce Springsteen wagt ein Tänzchen mit sich selbst.
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Western Stars zeigt ihn jetzt auf Abwegen und dennoch in Bestform. Gegen Ende der Platte scheint er in der eigenen Leichtigkeit richtig aufzugehen. In Hello Sunshine spielt er behutsam mit Motiven aus Fred Neils Everybody's Talkin', und bei There Goes My Miracle würde es nicht verwundern, wenn Chronisten einst herausfänden, dass er während der Aufnahme ein Tänzchen mit sich selbst gewagt hat. Ein schönes Album. (Karl Fluch, 13.6.2019)