Bild nicht mehr verfügbar.

Zu Fuß überqueren die Menschen das teils knietiefe Wasser. Sie werden von Schwerbewaffneten empfangen.

Foto: rEUTERS / jOSE lUIZ gONZALEZ

An einem Sonntag im Mai wurde Chris Brice schlagartig klar, dass die Flüchtlingskrise auch Deming erreicht hatte. Er saß zu Hause auf dem Sofa, als der Anruf kam. Am nächsten Tag, ließ ihn der Sheriff seiner Gemeinde wissen, werde die Border Patrol eine größere Gruppe Migranten bei ihnen absetzen. Brice möge bitte die Fäden in die Hand nehmen.

Deming, eine Stadt mit 14.000 Einwohnern, liegt mitten in der Chihuahua-Wüste im Süden New Mexicos, "in the middle of nowhere", wie manche sagen. In der Ferne die Gipfel der Florida Mountains, in der Nähe eine Bahnlinie, historisch gesehen die zweite, die sich von West nach Ost durch den Kontinent zog. Bis zur Grenze zu Mexiko sind es, quer durch eine braune, kahle Einöde, rund fünfzig Kilometer. Dass die Zahl derer, die ohne Einreisegenehmigung über diese Grenze kommen, neuerdings auf Rekordwerte gestiegen ist, war natürlich auch in Deming ein Thema. Allerdings ein eher abstraktes, denn konkrete Folgen hatte es nicht, dazu lag die kleine Oasenstadt zu weit vom Schuss.

"Nach kurzer Zeit" war es nicht vorbei

Das änderte sich mit dem Tag, an dem die Border Patrol, die Grenzpolizei, in zwei Bussen 123 Migranten nach Deming brachte, weil ihre eigenen Unterkünfte aus allen Nähten platzten. Brice, der City-Manager, der Cheforganisator an der Seite des ehrenamtlich tätigen Bürgermeisters, ein Praktiker ohne jede Neigung zum Drama, funktionierte kurzerhand einen schon lange nicht mehr genutzten Flugzeughangar aus dem Zweiten Weltkrieg zum Transitcamp um. Ein Gebäude mit Wellblechdach und zerbrochenen Fenstern, weit und breit die größte leerstehende Halle. "Okay, dachten wir, wir haben es mit einer Ausnahmesituation zu tun, nach kurzer Zeit ist es wieder vorbei", fasst er zusammen, wie er damals die Lage einschätzte. "Bald dämmerte uns, wie gründlich wir uns getäuscht hatten."

Mittlerweile ist, nicht weit von dem alten Hangar, auch das Areal der Southwestern New Mexico State Fair, auf dem einmal im Jahr eine Mischung aus Tierschau, Rodeo und Kirtag über die Bühne geht, ein provisorisches Auffanglager. Inzwischen sind es über 300 Menschen, um die sich Brice zu kümmern hat, ein stämmiger Mann, der einst bei der Kriegsmarine diente und danach als Berater in arabischen Ländern arbeitete, ehe er zurückkehrte in seine Heimat. In der Regel bleiben sie nur für zwei, drei Tage, bis ihre in den USA lebenden Bürgen, meist sind es Verwandte, ein Ticket für sie gebucht haben. Mit dem Greyhound-Fernbus oder dem Flugzeug geht es ans Ziel, wo irgendwann ein Gericht über ihr Asylgesuch befindet. Bis die Weiterreise organisiert ist, bis ihre Namen mit dem Strafregister abgeglichen sind, werden die Migranten von Ärzten untersucht, sie können duschen – für viele ist es das erste Mal seit Wochen – und ihre dreckverkrusteten Sachen gegen frische eintauschen. Bei den meisten, die zwischen Kleiderbündeln auf olivgrünen Feldbetten hocken, handelt es sich um Eltern mit ihren Kindern, oft entweder um Mütter oder Väter, jeweils solo, mit Kindern. Das Gros stammt aus El Salvador, Guatemala und Honduras.

Odyssee durch Mexiko

Wie Nicolas Pedro Pascual und dessen vierjähriger Sohn waren sie wochenlang unterwegs, bis sie nach der Odyssee durch Mexiko den Rio Grande erreichten, durchs knietiefe Flusswasser wateten und sich am amerikanischen Ufer der Border Patrol stellten. Er wolle zu einem Schwager nach Alabama, erzählt Pascual, und dort jede Arbeit annehmen, die er finden könne. Die alltägliche Gewalt habe ihn aus seiner guatemaltekischen Heimat vertrieben. Banden hätten ihm, dem Kaffeepflücker, regelmäßig die Hälfte des Lohns abgenommen. "Du hast keine Chance, du kannst dich nicht wehren, dir bleibt nur die Flucht", sagt der 36-Jährige.

Anfangs, erinnert sich Brice, habe es einigen Aufruhr gegeben wegen des Lagers am Rande der Stadt. "Aber jetzt, was soll ich sagen, es läuft." Eine Welle der Hilfsbereitschaft habe Deming erfasst. Wolldecken, Babywindeln, Shampoo – an Spenden herrsche kein Mangel. Jemand hat einen defekten Großküchenherd repariert, sodass sie nunmehr kochen können, vorzugsweise Reis und Bohnen. Jemand hat Kühlschränke beigesteuert, ein anderer Fußballtore. Sein größtes Problem, so Brice, sei der Mangel an Busfahrern. Er brauche dringend welche, denn täglich müssten einige Dutzend Menschen nach El Paso gebracht werden, zum nächsten Flughafen, von wo es weitergeht nach New York, Baltimore, Atlanta, Nashville, wohin auch immer. Da der Ex-Matrose nicht nur City-Manager ist, sondern auch Direktor des örtlichen Gefängnisses, offenbar überhaupt das Mädchen für alles im Verwaltungsbetrieb der Stadt Deming, hat er kurzerhand entschieden, den Gefängnistransporter zu nutzen, um die Leute nach El Paso zu fahren. "Not a big deal", winkt er ab.

Dass Deming überhaupt aushelfen muss, liegt an erschütternden Berichten über skandalöse Zustände in den Zentren der Border Patrol. Im Mai, fanden Kontrolleure des übergeordneten Heimatschutzministeriums heraus, mussten sich 41 Festgenommene in El Paso eine Zelle teilen, die für maximal acht Personen konzipiert ist. In dem gesamten Komplex hausten 900 Mi granten, siebenmal so viele wie zugelassen. Im März hatte die Einwanderungsbehörde ICE Hunderte unter einer Brücke campieren lassen, was lautstarke Proteste zur Folge hatte. Es sind die Notlösungen eines völlig überforderten Apparats. Nach der offiziellen Statistik wurden im Mai 132.887 illegal Eingewanderte an der Grenze zu Mexiko aufgegriffen, so viele wie seit 2007 nicht mehr. Das kirchliche Netzwerk Annunciation House, das die humanitäre Hilfe organisiert, hat neulich 500 Klappliegen in eine kurzfristig geräumte Lagerhalle gestellt. Demnächst könnten es 1200 werden, und die Halle ist nur eine von zwei Dutzend Notunterkünften in El Paso.

Entführte Migranten

Brinkley Johnson, eine angehende Lehrerin, ist aus Südkalifornien nach Westtexas gezogen, um für zwei Freiwilligenjahre zu helfen. Sie spricht von chronischer Erschöpfung. Und von theoretischen Lösungsansätzen, die in Wahrheit keine sind. Der Theorie nach, auf Druck des Präsidenten Donald Trump, müssten Asylbewerber in Ciudad Juárez, El Pasos mexikanischer Zwillingsstadt, ausharren, bis in den USA der Gerichtstermin ansteht – was Monate dauern kann. Manche warten geduldig, eine große Mehrheit zieht aber den illegalen Weg vor, den Weg über den Rio Grande. In der Hoffnung, am anderen Ufer sofort einer Grenzpatrouille in die Arme zu laufen – die sie nicht zurückschicken darf.

Auf absehbare Zeit, glaubt Brinkley Johnson, wird sich daran nichts ändern. In Ciudad Juárez seien Migranten Zielscheiben für Drogenkartelle, bisweilen würden sie entführt, um Lösegeld zu erpressen. "In Juárez ist es genauso schlimm wie zu Hause." Den Satz hat sie schon oft gehört von Guatemalteken, Honduranern. Was sie beschäftige, sagt die 23-Jährige, sei der Gedanke, dass die lange Reise für viele mit einer Enttäuschung ende. In neun von zehn Fällen wird das Asylgesuch abgelehnt.

Private Mauer, schnell gebaut

"Sind Sie Reporter?", ruft Jeff Allen am Telefon, noch bevor man sich richtig vorstellen konnte. "No comment" – ob er das noch buchstabieren solle, wimmelt er jegliche Nachfrage ab. Allen betreibt die American Eagle Brick Company, eine Ziegel fabrik am Rio Grande, zufällig genau an der Stelle, ab der der Fluss die Staatsgrenze bildet. Eine Privatinitiative aus Florida hat dort vor wenigen Tagen sechs Meter hohe Stahlsegmente in die Landschaft gesetzt und damit eine achthundert Meter breite Lücke im Grenzzaun geschlossen. Gegründet von Brian Kolfage, einem beinamputierten Air-Force-Veteranen, beraten vom Rechtspopulisten Steve Bannon, hat sie sechs Millionen Dollar an Spenden gesammelt. Um, so Kolfages Worte, zu zeigen, was effizientes Handeln bedeutet.

Es dauerte nur ein Wochenende, dann war der Zaun fertig. Allerdings muss sich nun der Bürgermeister von Sunland Park, der Industriestadt, zu der das Gelände der Ziegelfabrik gehört, heftige Kritik gefallen lassen. Aufgebrachte Bürger wollen wissen, warum er dem Zaunprojekt praktisch von heute auf morgen grünes Licht gab, während sie eine halbe Ewigkeit auf eine Genehmigung warten müssen, wenn sie nicht mehr als ein Mäuerchen an ihre Grundstücksgrenze setzen wollen. (Frank Herrmann aus El Paso und Deming, 16.6.2019)