Neugierde ist ein riesiges Potenzial, mit dem der Mensch geboren wird – sie ist uns allen von Beginn an eigen.

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Kinder, die Wissen aufsaugen wie ein Schwamm, die interessiert, lernbereit und früh fähig sind, Gefühle zu reflektieren – das wäre doch eine Vision für die Schule!

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Gespräche über Schule beginnen fast nie damit, was dort besonders gut funktioniert, was bereichert, inspiriert, an positiven Entwicklungen bei Kindern angestoßen wird. Das sagt eigentlich alles. Und es ist ungerecht – denn das, was in der Schule täglich gut funktioniert, fällt dabei unter den Tisch; es ist eben weniger spannend, regt nicht auf, ist damit weniger sichtbar. Es gibt auch keine Schlagzeilen her. Stattdessen dominieren (negative) Schlagworte die Berichterstattung zum Thema Schule – der Run auf die Privatschulen, die "Brennpunktschulen", Mobbing, Lehrermangel, miese Pisa-Ergebnisse, die Baustelle Zentralmatura, der eklatante Mangel an Spitzen- und Fachkräften.

Gefangen in Sachzwängen

Es gibt in Österreich mindestens so viele selbsternannte Schulexperten wie Fußballtrainer. Fast jede und jeder hat eine Meinung zur Schule – die speist sich meist aus persönlichen Erfahrungen, Enttäuschungen und Einblicken in Teilbereiche des Schulwesens, die man als Mutter oder Vater, (ehemaliges) Schulkind oder Lehrperson im Laufe der Jahre gewinnt. Verfolgt man die bildungspolitische Debatte, hat man rasch das Gefühl, die Verantwortlichen verzetteln sich in der Problembeschreibung, gefangen in Sachzwängen, Systemlogiken und politischen Spielchen.

Dabei sollte hinter bildungspolitischen Debatten eigentlich eine zentrale Frage stehen: Wie bleiben Kinder neugierig, wie lernen und reflektieren sie aus eigenem Antrieb? Wie können sie sich Bildung, Wissen, Menschlichkeit und Kritikfähigkeit aneignen – alles Dinge, die sie später brauchen, um ein selbstbestimmtes, freies, sinnstiftendes und glückliches Leben im fairen Verbund mit anderen Menschen zu führen. Vielleicht ist das die wichtigste Frage, die sich eine Gesellschaft heute stellen kann.

Bitte aufwachen

Eine Vision von Bildung könnte sein: die Schaffung eines freien Miteinanders informierter und reflektierter Bürgerinnen und Bürger, die sich möglichst auf Augenhöhe zueinander bewegen, in der jede und jeder in den Genuss beglückender Selbstentfaltung unter Berücksichtigung der eigenen Fähigkeiten und der Bedürfnisse anderer kommt. Die Frage, ob Schule vor allem für "das Leben" mit all seinen kognitiven, emotionalen und sozialen Herausforderungen rüsten soll oder doch eher für ein "Funktionieren" am Arbeitsmarkt – die stellt sich in dieser Vision eigentlich nicht. Denn in einem glücklichen Leben ist beides nicht zu trennen – Selbstentfaltung und sinnstiftendes Arbeiten nach der eigenen Fasson.

"Schulbildung soll neben dem unverzichtbaren Erwerb der Grundkompetenzen Menschen befähigen, die eigenen Potenziale auszuschöpfen, und zu einem mündigen, aktiven Teil unserer Gesellschaft zu machen." So formuliert es Gabriele Schmid. Sie leitet die Abteilung für Bildungspolitik der Arbeiterkammer Wien. Das klingt gar nicht so anders als das, was Wirtschaftskammer-Chef Harald Mahrer als Losung für die Schule von morgen ausgibt: Dort müssten die Kinder "die 21st-Century-Skills lernen: Zusammenarbeit, Kommunikation, Kreativität sowie kritisches und vernetztes Denken", sagt er. "Gleichzeitig müssen wir für sich immer schneller wandelnde Berufsbilder rasch die richtigen Bildungswege und Lehrberufe anbieten." Es gehe in der Schule der Zukunft auch um "Kompetenztraining".

Starke Neugierde

Wen immer man nach dem Zweck der Schule fragt – seien es Vertreterinnen oder Vertreter der Wirtschaft oder der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; seien es jene, denen das Wohl des Wirtschaftsstandorts am Herzen liegt oder eher Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich in der Gesellschaft: Es findet sich eigentlich niemand, der ausschließlich eines von der Schule fordert – entweder Ausbildung für den Arbeitsmarkt oder humanistisch geprägte Allgemeinbildung. Den allermeisten ist beides wichtig. Egal wen man fragt: Man hört, dass die Schule Kinder neugierig machen sollte. Unabhängig vom Elternhaus. Das sollte eigentlich Mut machen.

Denn das Schöne an der Neugierde ist, dass sie sich nicht instrumentalisieren lässt. Ein wissbegieriger, lernbereiter, kritischer und aus sich heraus interessierter Mensch lässt sich nicht so leicht steuern wie einer, dem das Interesse an Zusammenhängen, an anderen Menschen und letztlich an sich selbst nie vermittelt oder jäh ausgetrieben wurde. Neugierde ist ein riesiges Potenzial, mit dem der Mensch geboren wird – sie ist uns allen von Beginn an eigen. Die Welt zu entdecken und sie sich anzueignen ist ein kindlicher Grundantrieb. Entscheidend ist, in welchem familiären und schulischen Umfeld Kinder aufwachsen: Werden ihre Interessen gefördert, neue geweckt, dürfen sie sich erproben und ausprobieren, oder werden sie ruhiggestellt, abgestellt und abgestempelt? Werden sie ständig bewertet, müssen sie nur funktionieren?

Müssen Talente nur wachgeküsst werden?

Eine der vielleicht letzten großen ideologischen Richtungsfragen in der Bildungsdiskussion ist jene, ob Begabungen und Talente bei allen Kindern im Grunde gleich angelegt sind und durch Umfeld, Bestärkung und Förderung nur wachgeküsst werden müssen – oder ob es Menschen mit außerordentlicher Befähigung in bestimmten Bereichen gibt, die unabhängig von Förderung eher als andere zu Spitzenleistungen imstande sind. Hier setzt meist die Debatte um die Gesamtschule an. Das Spannende ist, dass sich heute die Forderung von den Vertretern der Industrie und der Arbeitnehmer in dieser Sache kaum mehr unterscheiden – wenn auch das Motiv dahinter ein anderes sein mag.

"Ja, ich bin der Meinung, dass wir mit einer neuen gemeinsamen Schule von sechs bis 14 inklusive einer Basisphase von zwei verpflichtenden Kindergartenjahren einen wichtigen Schritt in Richtung guter und erfolgreicher Bildungslaufbahnen machen würden", sagt etwa Christian Friesl, Bereichsleiter Bildung und Gesellschaft bei der Industriellenvereinigung. Und: "Moderne Bildung heißt für uns, die Qualität der Grundbildung bis 14 nachhaltig zu verbessern, und zwar in der Breite und in der Spitze. Kinder und Jugendliche haben Anspruch darauf, dass sie auf die Gestaltung und Bewältigung des wirtschaftlichen und sozialen Wandels und auf ihre berufliche Zukunft vorbereitet werden." Die Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen würden weiterhin eine wichtige Rolle spielen, ergänzt um digitale Kompetenzen. "Mehr Bedeutung werden Wirtschaftsbildung, gelebte Demokratie, Umwelt und Nachhaltigkeit bekommen", sagt Friesl.

Gerade bei der Grundbildung gehe es neben Wissen auch um Skills und Charakter – um Werte und Fähigkeiten, um kluge Entscheidungen für sich und die Gesellschaft zu treffen. "Und natürlich braucht es eine Haltung, selbst weiterlernen zu wollen." Ins selbe Horn stößt Gabriele Schmid: "In Abkehr von überholtem Auswendiglernen ist es notwendig, jungen Menschen auf der Suche nach eigenen, kreativen Antworten auf bislang unbekannte Anforderungen zu stärken, ihnen Hilfsmittel in die Hand zu geben, die es ihnen erlauben, mit erhobenem Haupt Probleme zu bewältigen und sich in Gemeinschaft zu bewähren." Die AK tritt seit jeher für die Gesamtschule ein. "Wir wollen, dass jedes Kind, unabhängig von seiner sozialen oder ethnischen Herkunft, im österreichischen Schulwesen Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten hat."

Erleben und Erlernen

Der Weg zur Neugierde führt über das individuelle Eingehen auf jedes Kind mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Es ist kein Wunder, dass jene Schulsysteme, die personell breit aufgestellt sind und alle möglichst ganzheitlich betreuen, die besten und aufgewecktesten Kinder hervorbringen. Das ist natürlich zunächst eine Frage der Ressourcen, der schulischen Strukturen. Aber es hat auch damit zu tun, wie Lehrerinnen und Lehrer ihre Rolle anlegen und wofür sie ausgebildet werden. "Pädagogen werden zum persönlichen Coach, vom Prüfer zum Trainer", sagt Harald Mahrer. Es brauche persönliche Bildungspfade, wo der Fokus auf jeder Schülerin und jedem Schüler liegt. "Der intensive persönliche und individuelle Kontakt mit den Lehrenden wird ergänzt durch eine vielfältige und abwechslungsreiche Mediennutzung. Hauptsache, die Neugierde wird geweckt."

Das unterschreibt auch Gabriele Schmid: "Im Zentrum steht das eigene Erleben und Erlernen, das unter Anleitung von Lehrpersonen geschieht und das individuelle Erkennen, wie und auf welchem Weg Lernziele zu erreichen sind." Auch Christian Friesl sagt: "Wir müssen weg von Routinen, hin zu persönlichen, komplexeren, kreativen Aufgaben. Das bedeutet auch ein neues Selbstverständnis, wie Unterrichtsfächer miteinander und zueinander wirken." Manchmal ist die Schulkollegin der Schlüssel zum Erfolg, manchmal die besonders ermutigende Lehrerin. Und manchmal fällt der Groschen bei einem gut gemachten Lernvideo auf Youtube. Recht hat, wer neugierig macht – das könnte doch eine Losung der Schule der Zukunft sein. (Lisa Mayr, 16.6.2019)

Wir sprechen mit dem Whatchado-Gründer und EU-Jugendbotschafter Ali Mahlodji über Bildung, die uns und unsere Kinder fit für die Zukunft macht.