Sozialhilfebezieher müssen jeden Euro mehrmals umdrehen. In Niederösterreich werde ihnen ein Auskommen nun noch mehr erschwert, kritisieren Diakonie und Vertretungsnetz.

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St. Pölten – Die türkis-blaue Bundesregierung ist Geschichte, ihre Beschlüsse, auch die umstrittensten, aber bleiben. Und sie entfalten ihre Wirkung: So etwa das im vergangenen April im Nationalrat verabschiedete Sozialhilfe-Grundgesetz, das die frühere bedarfsorientierte Mindestsicherung ersetzt.

Laut Kritikern verschärft es den Druck auf sozial Schwache und erhöht das Armutsrisiko kinderreicher, vielfach ausländischer Familien.

Kein Begutachtungsverfahren

Mit 1. Juni ist die neue Sozialhilfe bundesweit in Kraft getreten. Für die landesrechtliche Umsetzung haben die Bundesländer bis Anfang 2020 Zeit. In Niederösterreich hat man diese Frist nicht in Anspruch genommen. Schon vergangenen Donnerstag hat der Landtag in St. Pölten mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ und gegen die Stimmen aller anderen Parteien ein niederösterreichisches Sozialhilfe-Ausführungsgesetz (NÖ Sag) beschlossen – lang vor allen anderen Bundesländern und ohne vorheriges Begutachtungsverfahren.

Im Landtag verteidigte ÖVP-Abgeordneter Anton Erber diese Eile: Die neue Sozialhilfe sei "in Wahrheit in Niederösterreich erfunden worden", sagte er – sich dabei auf den Umstand beziehend, dass das Bundesland 2017 als allererstes strengere Mindestsicherungsregeln beschlossen hatte, die in der Folge vom Verfassungsgerichtshof teilweise wieder aufgehoben worden waren. Udo Landbauer (FPÖ) sprach von Verbesserungen, etwa für Menschen mit Behinderung.

Warnung vor "sozialer Not"

Die Eile habe sich auf die Qualität der Regelung negativ niedergeschlagen, sagte hingegen Martin Schenk, Vizedirektor der evangelischen Diakonie, zum STANDARD: "Das niederösterreichische Sozialhilfe-Ausführungsgesetz wird zu sozialer Not bei pflegenden Angehörigen, Familien, Kindern, Wohnungslosen führen."

Grund dafür: Die vom Bundesgesetz vorgeschriebenen neuen Härten haben in die niederösterreichische Regelung voll Eingang gefunden. Zum Beispiel der Umstand, dass dem zweiten Kind einer Familie nur höchstens 132,82 Euro monatlich, dem dritten gar nur 44,27 Euro Sozialhilfe zur Deckung des gesamten Lebensbedarfs zukommen.

Zu wenig, um zu wohnen

Zugelassene Spielräume hingegen hat man in der Landesregelung nicht ausgenutzt. Zum Beispiel im Bereich Wohnen. Tatsächlich deckelt das Sozialhilfe-Ausführungsgesetz die Auszahlungen für Wohnungsmieten. Sie werden mit 40 Prozent des gesamten Sozialhilfebezugs bemessen, der für eine Einzelperson monatlich derzeit höchstens 885,74 Euro beträgt.

Der 40-Prozent-Anteil gilt, egal wie teuer die Miete tatsächlich ist. Er soll möglichst als Sachleistung gewährt werden, was den monatlichen Geldbezug empfindlich schmälert. Auf die im Bundesgesetz eröffnete Möglichkeit einer Überzahlung im Fall höherer Wohnkosten hat das Land verzichtet.

Waldhäusl ist zuständig

Für die Anwendung der neuen NÖ-Sozialhilfe ist Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ) zuständig.

Kritik an den von der Landesregelung nicht abgefederten Härten des Bundes-Sozialhilfegesetzes kommt auch vom Verein Vertretungsnetz für Menschen mit psychischer oder intellektueller Beeinträchtigung. Der als Verbesserung beworbene Zuschlag für Menschen mit Behinderung bleibe für viele Klienten in der Praxis unerreichbar.

Denn um das Zusatzgeld zu erhalten, müssten sie einen Behindertengrad von mindestens 50 Prozent vorweisen. Im Fall einer psychischen Erkrankung sei das höchst unwahrscheinlich.

Bundesrat geht zum Verfassungsgerichtshof

Der Bundesrat will das Bundes-Sozialhilfegesetz indes noch im Juli mit den Stimmen der SPÖ dem Verfassungsgerichtshof zur Prüfung vorlegen. (Irene Brickner, 17.6.2019)