Tayyip Erdoğan präsentierte sich gern und oft als strahlender Sieger. Nach der Niederlage seiner AKP gegen Ekrem İmamoğlu (im Bild) sieht er plötzlich blass aus.

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Wien – Rund 3,5 Milliarden Euro sind es umgerechnet, die in der vergangenen Nacht ihren Herrn gewechselt haben. Eigentlich gehören sie zwar niemandem persönlich. Aber doch waren sie bisher von Tayyip Erdoğans AKP mitbenutzt worden, um so die politischen Netzwerke und die guten Beziehungen zu allerhand Firmen- und Medienchefs in Istanbul aufrechtzuerhalten. Auch darauf gründete Erdoğan, selbst Ex-Bürgermeister Istanbuls, in den 1990er-Jahren seine politische Karriere. Nun geht das Budget der 15-Millionen-Stadt in die Hände der Opposition. Nach dem Wahlsieg des CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu verfügt jetzt erstmals seit Jahrzehnten nicht die islamisch-konservative Partei des Präsidenten oder deren Vorgänger über die Macht in der größten und wichtigsten Stadt des Landes. Es ist, wenn auch vorerst nur im Kleinen, eine politische Zeitenwende für die Türkei.

Erdoğan selbst hatte sich aus dem Wahlkampf zurückgezogen, als ruchbar wurde, dass sein Parteifreund, Ex-Premier Binali Yıldırım, auch die Wahlwiederholung verlieren würde, die man zuvor selbst unter dubiosen Umständen in die Wege geleitet hatte. Dabei hatte er kurz zuvor noch die Bedeutung der Stadt betont: "Wer Istanbul gewinnt, der gewinnt die Türkei." Ob es nun wirklich so kommt, ist nicht gesagt. Trotz des Wahlsiegs der CHP genießt das System Erdoğan noch immer den Zugriff auf viele Kanäle der Macht: Medien, Justiz und den Sicherheitsapparat. Erdoğan könnte das etwa nutzen, um der Stadt Teile des Budgets zu entziehen – und den neuen Bürgermeister İmamoğlu macht- und tatenlos aussehen zu lassen, bevor dieser auf die Idee kommt, ihn auch landesweit herauszufordern.

Der Glaube ist weg

Aber auch der Präsident weiß: Vieles von dem, worauf sein System baut, ist dem Glauben an die Unausweichlichkeit seiner Prolongierung geschuldet. Glauben Medienzaren nicht mehr an den Fortbestand der AKP-Herrschaft, bringt es nichts mehr, mit der Partei auf gutem Fuß zu stehen. Glauben Richter, Staatsanwälte und die Polizei, dass Erdoğans Macht endlich ist, wird ihre Motivation sinken, das Recht zu beugen und Oppositionelle zu verfolgen, die vielleicht eines Tages ihre politisch Vorgesetzten sein könnten. Und schließlich bleiben die Türkinnen und Türken selbst: Ein Segment der Bevölkerung wählt Erdoğan als vermeintlich starken Mann. Diese Menschen konnten nun sehen, dass er das nicht ist, jedenfalls nicht unumschränkt.

Die Auswirkung auf seinen Ruf fürchtet der Präsident. Vor allem, weil es viel mehr als ausbleibende Unfehlbarkeit ist. Im Gegenteil hat Erdoğan mit der Wahlwiederholung seine Partei in einen fatalen Fehler geführt. Es ist ein Fehler, der vieles deutlich machte, was Gegner ihm vorwerfen, seine Anhänger bisher aber nicht glaubten. Geht die türkische Regierung wirklich via gesteuerte Justiz gegen Andersdenkende vor? Wer es bisher wissen wollte, wusste, dass die Antwort Ja lautet. Wer bisher von Erdoğan eingenommen war, bekam es mit der Wahlwiederholung so deutlich und schamlos präsentiert, dass es nicht mehr zu ignorieren war.

Ist Erdoğans Taktik vielleicht doch nicht so genial, wie er selbst das gerne darstellt? Auch Fans werden eingestehen müssen: In Istanbul wirkte die AKP planlos und schlecht beraten. Vielleicht haben auch aus diesen Gründen nun viele konservative Bezirke nicht mehr einhellig für seine Partei gestimmt.

Die Präsidentenpartei rühmt sich damit, den Wohlstand in der Türkei verteilt zu haben. Doch wegen der anhaltenden Krise gilt auch dieses Argument nicht mehr, im Gegenteil: Nach İmamoğlus Wahlsieg in Istanbul stiegen die Kurse von Lira und türkischen Aktien.

Noch ist es nicht vorbei

Das alles heißt nicht, dass es für Erdoğan und sein System schon vorbei ist. Die Opposition brauchte in Istanbul die ganze Mischung aus einem gutem Kandidaten, schlechter Wirtschaft, Unvermögen der AKP, Unterstützung der Kurden und Stadtdemografie, um dem Präsidenten Paroli zu bieten. Aber der erste Schritt ist gemacht, der Bann ist gebrochen.

Fraglich ist nun, wie Erdoğan auf die Niederlage reagiert. Dass die AKP den Wahlsieg anerkannt hat, zeigt weniger den Willen, demokratische Mindeststandards einzuhalten, als die Angst vor dem völligen Gesichtsverlust. Bisher hat sich der Präsident zweimal in nationalistische Abenteuer gerettet, als der innenpolitische Druck zu hoch wurde: einmal 2015 mit dem Hochkochen des Kurdenkonflikts, einmal mit dem stärkeren Einsatz der türkischen Armee in Syrien. Welche Wege der Staatschef nun für sich sieht, ist offen. Denkbar wäre ein noch härterer Kurs gegenüber Europa. Politiker in Brüssel und den Hauptstädten haben sich in Sachen "Flüchtlingsdeal" hier immerhin an Erdoğan gekettet.

Herausforderung für Europa

Europa ist schließlich das letzte Stichwort. Denn auch auf die EU hätte eine Erdoğan-Dämmerung Auswirkungen. Bisher konnten Politiker ihre Ablehnung eines türkischen Beitritts mit dem offensichtlichen Rückschritt bei Rechtsstaat und Regierungsführung in Ankara begründen. Übernimmt eines Tages die Opposition die Macht, kommt auch für die EU-Politik ein Moment der Wahrheit. Sie muss dann umdenken – oder sich neue, womöglich ehrlichere Argumente gegen einen türkischen Beitritt suchen.

Bis dahin ist es ohnehin ein weiter Weg, die Repression in der Türkei hält an. Just am Tag nach der Wahl und just in Istanbul begann am Montag der Prozess gegen den türkischen Kulturmäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala und 15 echte oder angebliche Mitstreiter. "Versuch des Sturzes der Regierung" lautet der Vorwurf. Die Staatsanwaltschaft legt ihnen zur Last, das letzte Mal dabei gewesen zu sein, als das System Erdoğan endlich schien: 2013 bei den Protesten im Gezi-Park. (Manuel Escher, 24.6.2019)