Es gibt 460.000 Pflegegeldbezieher in Österreich, 84 Prozent werden zu Hause gepflegt. Sie müssen mehr unterstützt werden, sagt Ulrike Famira-Mühlberger und fordert Beratungsstellen.

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Mit einem hat Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) recht. "Die Sicherung der Pflege wird seit Jahren in Österreich vor sich hergeschoben und nicht gelöst", sagt der ÖVP-Chef bei der Präsentation des türkisen Pflegemodells. Was er nicht dazusagt: Seine Partei war in den vergangen 30 Jahren durchgehend Teil der Regierung.

Dennoch taucht das Thema Pflege vor allem im Wahlkampf auf. 2017 wurde wenige Monate vor der Nationalratswahl die Abschaffung des Pflegeregresses ohne eine Gegenfinanzierung im Parlament beschlossen. Alle Parteien bis auf die Neos stimmten mit. Auch im aktuellen Vorwahlkampf wollen alle Parteien, außer der ÖVP, das Pflegegeld ab 2020 an die Inflation anpassen.

Wahlzuckerl ohne Gesamtkonzept?

Aber ist es damit getan? Oder ist die bevorstehende Valorisierung des Pflegegelds wieder nur ein Wahlzuckerl ohne Gesamtkonzept?

Immerhin gibt es österreichweit 460.000 Pflegegeldbezieher, mehr als die Hälfte davon befindet sich in den ersten drei Pflegestufen. Die Pflegestufe gibt Auskunft über den monatlichen Pflegebedarf: In der ersten Stufe sind es 65 Stunden im Monat, das Pflegegeld beträgt 157,30 Euro. Bei der zweiten Stufe sind es 95 Stunden und 290 Euro, bei der dritten 120 Stunden und 451,8 Euro. Die Valorisierung des Pflegegelds kostet zwar in Summe 50 Millionen Euro jährlich, dem Einzelnen bringt sie aber wenig. Ein Plus von drei Euro monatlich in Pflegestufe eins, sechs Euro bei Pflegestufe zwei und neun Euro bei Pflegestufe drei.

"Pflegegeld alleine pflegt nicht", sagt Ulrike Famira-Mühlberger. Die Volkswirtin forscht am Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) zum Thema Pflege. Sie sieht dringenden Handlungsbedarf, und zwar weit mehr als die Anpassung des Pflegegelds.

Kaum durchschaubar

Sie fordert, Pflege kleinräumiger zu denken. Denn die Zuständigkeiten verteilen sich in Österreich auf die verschiedenen Gebietskörperschaften. Wer wofür zuständig ist, ist für die Betroffenen nur schwer zu durchschauen. Famira-Mühlberger sieht darin ein Problem: "Pflege muss derzeit privat organisiert werden. Informationen über Angebot und Bedürfnisse laufen nirgendwo zusammen. Aber nur dann kann ein effizientes und treffsicheres System aufgebaut werden."

Auch die Zersplitterung bei der Finanzierung stellt ein Problem dar, das Angebot in den Bundesländern ist unterschiedlich. Kostenanteile für Heimhilfen, aber auch Selbstbehalte für Heilbehelfe oder Nahrungsergänzungsmittel variieren stark, eine Angleichung ist längst überfällig.

Gemeinsame Konzepte fehlen

"Es fehlen gemeinsame Konzepte von Bund, Ländern und Gemeinden. Dadurch kann nicht voneinander gelernt werden", findet Famira-Mühlberger. Nachsatz: "Der Föderalismus macht das Ganze natürlich noch komplizierter."

Als ersten Schritt empfiehlt sie, Beratungsstellen in Gemeinden zu etablieren. Davon würden Betroffene und Staat profitieren. Der Bedarf könne aufgrund der Nachfrage exakt ermittelt werden, und die gewonnenen Daten liefern die Basis für die Ausrichtung eines nachhaltigen Konzeptes.

Imageproblem

Martin Nagl-Cupal, stellvertretender Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Wien, will bei Pflegeberufen ansetzen. Sie sollen aufgewertet werden. Sein Ansatz dafür: "Bessere Löhne und ein attraktiveres Berufsbild." Man müsse sich fragen, warum die meisten Pflegekräfte eben nicht in den häuslichen Bereich gehen wollen. Er schlägt vor, dass es für diesen Bereich eine Spezialisierung in der Ausbildung geben soll. Denn häusliche Pflege hat ein Imageproblem: "Pflege ist nicht nur die Begleitung einer Abwärtsbewegung bis zum Tod", sagt Nagl-Cupal. Dafür braucht es Spezialisten.

Außerdem fordert der Experte mehr Unterstützung für pflegende Angehörige, etwa durch umfassende Beratung. Immerhin werden 84 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt, zu einem großen Teil von – weiblichen – Angehörigen. Nur ein Drittel nimmt mobile Dienste in Anspruch.

Die Entlastung der Angehörigen würde über die Förderung von Tageszentren gehen. Denn derzeit sei das System sehr geldleistungsorientiert, meint Famira-Mühlberger. Auch die Sachleistungskomponente sollte mehr berücksichtigt werden. Aktuell gebe es nämlich eine Versorgungslücke zwischen stationärer und mobiler Pflege. Letztere würde nur wenige Stunden am Tag umfassen, aber Pflege bedeute nicht unmittelbar Bettlägerigkeit. Diese Lücke werde, sofern für die Betroffenen leistbar, mit 24-Stunden-Betreuung gelöst, auch wenn diese nicht notwendig sei.

Babyboomer vor kritischem Alter

Die Herausforderungen in diesem Bereich werden nicht weniger. Studien zufolge steht der große Anstieg an Pflegebedürftigen in den Jahren zwischen 2035 und 2050 bevor, wenn die Babyboomer-Generation das kritische Alter erreicht.

Famira-Mühlberger sieht nicht nur die Politik in der Organisation der Pflege gefordert. Auch im Gesundheitsbereich müsse ein viel stärkerer Fokus auf Prävention gelegt werden. "Das Gesundheitssystem ist postfaktisch: Mehr Engagement in der Prävention würde auch das Pflegesystem entlasten", meint sie. Dass Gesundheit und Pflege als getrennte Systeme behandelt werden, findet die Volkswirtin nicht sinnvoll. Pflege stehe damit im Schatten der Gesundheitsversorgung. Besser wäre es, diese beiden Bereiche zusammenzuführen und gemeinsam zu planen. (Marie-Theres Egyed, 24.6.2019)